jour fixe initiative, Berlin Anfang November 2003
Die Umwälzung und Abschaffung von Herrschaftsverhältnissen ist das zentrale Anliegen einer Politik der Emanzipation. Während das konservative Denken die Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche als naturgegeben bestimmt und der Liberalismus diese Spaltung aktiv betreibt, haben sozialrevolutionäre und sozialistische Bewegungen versucht, die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Klassenkampf hieß das Losungswort, um die treibende Kraft der Geschichte zu benennen und der Analyse des Kapitalismus eine politische Perspektive zu geben. Dass diese Perspektive ihre Evidenz verloren hat, ist Anlass genug, nach dem Stand der sozialen Kämpfe unserer Zeit zu fragen.
Die Emanzipation des Individuums, die Beseitigung irrationaler und unmittelbarer Gewaltverhältnisse und die Rationalisierung der materiellen Produktion waren Möglichkeiten und Versprechen der bürgerlichen Revolution. Doch unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise stieß die freie Entwicklung des Individuums immer wieder an Grenzen, die das Proletariat als revolutionäres Subjekt der Geschichte beseitigen sollte.
Während der Marxismus es weitgehend mit der Arbeiterklasse und deren Avantgarde identifizieren konnte, haben Imperialismus, Nationalismus und Kulturindustrie das Klassenbewusstsein verdrängt und geschwächt und den zentralen Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital staatskonform gebändigt. Die dem Kapitalismus unterworfenen Subjekte der Gegenwart, Lumpenproletarier, freigesetzte Arbeitskraftunternehmer, depressive Manager, befinden sich, trotz aller bürgerlichen Vertragsverhältnisse, in einem Krieg aller gegen alle. Das Grauen der Bürgerkriegsökonomien zerfallender postkolonialer Staaten in Afrika und in anderen Teilen der Welt zeugt von einem Krieg, der in den Peripherien ausgetragen und als Kampf der Kulturen, humanitäre Intervention und Krieg gegen den Terror wahrgenommen wird. Die kritische Auseinandersetzung mit solchen und anderen Ideologien verfehlt allzu oft, was Ideologiekritik doch leisten sollte: eine Denkweise dadurch zu kritisieren, dass man deren Zusammenhang mit der gesamten Gesellschaft sichtbar macht.
Die neue Linke hat sich von dem deterministischen Geschichtsbild verabschiedet, das aus den Arbeitern automatisch ein revolutionäres Subjekt macht. Das Widerständige, das angesichts der unversöhnlichen Gegensätze in der kapitalistischen Gesellschaft aufscheint, kann nicht an einer einzigen Klasse festgemacht werden. In diesem Kontext begannen Frauen-, Ökologie-, schwarze Bürgerrechts- und andere soziale Bewegungen, ihre politischen Rechte einzufordern. Der Kampf um politische und kulturelle Anerkennung hat die ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft jedoch oft aus den Augen verloren oder wurde in den Dienst kapitalistischer Modernisierung gestellt. Es stellt sich weiterhin die Frage, wie eine in unterschiedliche Milieus zerstreute Bewegung Bündnisse eingehen kann, um politische Hegemonie zu gewinnen und den Herrschaftscharakter des Staates in Frage zu stellen.
Innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftung ist es immer wieder gelungen, die durch Ausbeutung und Verelendung formierten revolutionären Kräfte entweder zu eliminieren oder aber zu integrieren. Letzteres betrifft nicht zuletzt die Verinnerlichung der kapitalistischen Arbeitsnormen und die daraus resultierende Idealisierung der Arbeit in der marxistischen Arbeiterbewegung. Sie führte zu dem „Konformismus“, den Walter Benjamin mit Blick auf Marxens Kritik des Gothaer Programms „von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch“ sah und auf einen „korrumpierten Begriff von Arbeit“ zurückführte. Nicht zufällig haben sich in der Geschichte der Klassenkämpfe emanzipatorische und antiemanzipatorische Tendenzen, Ideen der sozialen und der nationalen Befreiung immer wieder vermischt. Je mehr sich der Kapitalismus verallgemeinert und globalisiert, desto undurchsichtiger wird diese Gemengelage. Auch in den sozialen Kämpfen der Gegenwart ist daher die Konstitution des Subjekts und seine Stellung im Kapitalismus für die Frage nach den Möglichkeiten seiner Überwindung von entscheidender Bedeutung.
Die Tatsache, dass in Deutschland heute keine klassenförmige politische Bewegung existiert, die diese Gesellschaft beseitigt oder zumindest einen bescheidenen Versuch dazu unternommen hätte, bedeutet noch lange nicht, dass wir nicht mehr in einer Klassengesellschaft leben. Dass der eine Teil dieser Klassengesellschaft gemeinsam mit einer sozialdemokratischen Regierung seit einigen Jahren einen offenen Klassenkampf führt, hat jedoch in keinem Moment die andere Seite dazu gebracht, den Fehdehandschuh aufzugreifen. Bis auf wenige Ausnahmen war nicht einmal die radikale Linke dazu in der Lage, die Gefahr oder Gunst der Stunde wahrzunehmen.
Nach den Veranstaltungsreihen „Kritische Theorie und Poststrukturalismus“, „Theorie des Faschismus Kritik der Gesellschaft“, „Wie wird man fremd?“, „Geschichte nach Auschwitz“, „Kunstwerk und Kritik“ und „Fluchtlinien des Exils“ wollen wir in dieser Reihe der Frage nachgehen, warum es in Deutschland, Europa und dem Rest der Welt trotz frontalen Angriffen auf oft nur bescheidene, aber hart erstrittene Lebensverhältnisse, nicht zu einer Bewegung kommt, die zumindest die Ausmaße eines französischen Mai 68 erreicht. Die ungehinderte Durchsetzung des kapitalistischen Marktes scheint, je skrupelloser und arroganter sie vorgeht, um so erfolgreicher zu sein. Artikulieren die heute zu beobachtenden Proteste gegen soziale Deklassierung, Kürzungen im sozialen Bereich oder im Gesundheitssektor noch ein Klassenbewusstsein? Oder haben Bewegungen, deren Forderungen sich nur auf die ökonomischen Interessen der eigenen Klientel beschränken, damit nichts mehr zu tun? Stehen zum Beispiel Teile der globalisierungskritischen Bewegung in einer Kontinuität des Klassenkampfes, stellen sie gar neue Formen dar, oder nur eine neue Form seiner Ideologisierung?
Der paternalistische Wohlfahrtsstaat nach dem Muster der 60/70er Jahre ist einerseits ein Instrument kapitalistischer Integration. Andererseits sind die mehr oder weniger stark ausgeprägten sozialen Sicherungssysteme der westlichen Industriestaaten aber auch als Ergebnis von Klassenkämpfen zu interpretieren, deren Errungenschaften nicht einfach kampflos aufzugeben sind. Damit ist folgendes Dilemma benannt: der Staat als Garant sozialer Rechte ist zugleich die Herrschaftsinstitution, die die Verwertung und Ausbeutung der Arbeit garantiert und soziale Kämpfe reguliert.
Für Adorno ist in der verwalteten Welt und vor allem nach Auschwitz die Möglichkeit einer emanzipatorischen Praxis auf lange Sicht blockiert. Dabei hat Adorno sich nicht prinzipiell gegen Praxis ausgesprochen, sondern die Reflexion der Bedingungen von Praxis eingefordert, um die Idee der Emanzipation gegenüber blindem Aktionismus zu bewahren. Statt auf ein rebellisches Subjekt zu vertrauen, das spontan und voluntaristisch entsteht, spürt er den Momenten nach, in denen sich das deformierte Bewusstsein seiner Deformation verweigert. Zu fragen wäre, ob sich auch im Engagement für konkrete Humanität, die aufs je konkrete Individuum gerichtet ist und nicht notwendigerweise auf die Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse, ein widerständiges Bewusstsein bilden kann oder ob darin zumindest die Idee einer menschlichen Gesellschaft bewahrt bleibt.
Marcuse, Bourdieu, Deleuze, Negri/Hardt u.a. halten an der Idee fest, dass der Klassenkampf der Motor der Geschichte ist, auch wenn sich die Klassen fragmentiert und die Kämpfe vervielfältigt haben. Auf globaler Ebene stellt sich allerdings die Frage, ob die Fragmentierung der Klassen und die Vervielfältigung der Kämpfe so weit fortgeschritten ist, dass sich die emanzipatorische Perspektive des antikapitalistischen Kampfes verliertstatt sich auszubreiten. Die alte Hoffnung, besonders in der Peripherie bestünde ein revolutionäres Potential, ist verflogen. Stattdessen scheinen dort alle Arten religiöser und ethnischer Fundamentalismen als Alternativen vorgezogen zu werden.
Die internationale Linke befindet sich nicht im geschichtsleeren Raum, sondern kann sich auf die Pariser Kommune, den spanischen Bürgerkrieg, den französischen Mai 68, die Experimente in Mittel- und Südamerika und andere politische Kämpfe beziehen. Das Bewusstsein vergangener Kämpfe ist für eine revolutionäre Perspektive ebenso wichtig wie deren ökonomische und soziale Position. Auch die Verlierer der Geschichte sind politische Subjekte. Sie haben sich nicht apathisch ihrem Schicksal gefügt, sondern die bestehenden Herrschaftsverhältnisse angegriffen. In Frankreich werden Verbesserungen der sozialen Lage gegen den Staat und die Unternehmen erkämpft, während in der Bundesrepublik dagegen kein vergleichbares Bewusstsein existiert, das auf der geschichtlichen Erfahrung sozialer Kämpfe basiert. Nach dem Nationalsozialismus etablierte sich eine korporatistische Sozial- und Tarifpolitik. Werden soziale Errungenschaften als eine „gerechte“ Verteilungspolitik des Staates gesehen und nicht als Ergebnis von Klassenkämpfen, gibt es kaum die Bereitschaft, diese gegen Angriffe von oben zu verteidigen.
1968 kann vor allem in Frankreich als der radikalste Versuch einer sozialen Gesellschaftsveränderung in einem hochentwickelten kapitalistischen Land gedeutet werden, der neue Formen des Klassenkampfes hervorgebracht hat und trotzdem gescheitert ist. Anders als in Frankreich und Italien gelang es der bundesdeutschen 68er Bewegung nicht, ein Bündnis mit Gewerkschaften und Arbeitern zustande zu bringen. Während die Bekenntnisse zur Arbeiterschaft eine rhetorische Übung der Intellektuellen blieben, verstanden die Gewerkschaften die antiautoritäre Revolte der StudentInnen als Angriff auf ihre korporatistische Politik. Zwar sollte die Tragweite des Versuchs nicht überschätzt werden, doch betrachteten sich die linken Intellektuellen im Frankreich der Nachkriegszeit als Verbündete der Arbeiterbewegung. In dieser Tradition haben sich Foucault, Bourdieu oder Derrida an sozialen Kämpfen von Deklassierten, MigrantInnen und Arbeitern beteiligt.
Der Kapitalismus ist kein Schicksal, sondern Resultat von ununterbrochenen, mal offen, mal verdeckt geführten Klassenkämpfen. Er ist nicht abstrakt und ewig, sondern historisch und regional spezifisch in seinen Ausprägungen. Es sind die historischen und aktuellen Ausprägungen der sozialen Bewegungen, denen sich die Beiträge dieser Vortragsreihe besonders widmen sollen. Wie sind die Vergesellschaftungsformen entstanden, in denen sich diese Kämpfe konstituieren und die oftmals zugleich ihr Austragen verhindern. Wie sind die Theorien und Ideologien einzuschätzen, die im Kontext dieser Kämpfe formuliert wurden? Die unklaren Frontverläufe der Klassenkämpfe der Gegenwart machen Antworten auf diese Fragen ebenso schwierig wie notwendig. Im Zentrum steht die Frage, wie sich politischer Subjekte konstituieren können, wenn ihnen die ökonomischen und sozialen Grundlagen ihres Lebens entzogen werden. Wie ist es mit den Möglichkeiten einer Emanzipation unter diesen Bedingungen bestellt?
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