Die Bundespolizei PFP zog sich nach sechswöchiger Besetzung von Oaxaca Stadt Mitte Dezember aus dem Stadtzentrum zurück, bleibt aber für einen Einsatz bereit. Calderon scheint entschlossen zu sein den Gouverneur Ruiz weiter zu stützen. Mit Zuckerbrot und Peitsche soll die APPO weiter geschwächt werden. Die APPO ihrerseits versucht, nach der militärischen Besetzung der Hauptstadt im November und in einem andauernden Klima des Terrors wieder Tritt zu fassen…
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22. Dezember: Internationaler Aktionstag zu Oaxaca, Demos in Berlin, Bremen, Köln, Wuppertal, Wien und zahlreichen weiteren Städten und Ländern.
Die Soli-Kundgebung in Wuppertal beginnt um 18 Uhr bei Mina Knallenfalls in der Elberfelder Innenstadt nahe der City Arkaden.
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18. Dezember: APPO-Sprecher von Todesschwadron enführt und gefoltert!
Florentino López Martínez, der Sprecher der APPO, wurde zusammen mit zwei weiteren Mitgliedern der Volksbewegung von der Strasse weg von schwer bewaffneten Männern der Lokalpolizei in Zivil entführt. Die Männer posaunten gegenüber ihren Geiseln stolz heraus, sie seien Teil einer „escuadron de muerte“, einer Todesschwadron zur Beseitigung von AktivistInnen.
Nach zwei Stunden, während derer die drei ununterbrochen geschlagen und bedroht wurden, setzten Agenten der PFP die Aktivisten wieder auf freien Fuss. Solche „secuestros express“, Expressentführungen, sind normalerweise eine beliebte Methode der Verbrecherbanden…
18. Dezember. CNDH konstatiert andauernden Konflikt
Die Nationale Menschenrechtskommission CNDH, eine bundesstaatliche Stelle mit relativer Unabhängigkeit, veröffentlichte einen Vorabbericht zu Oaxaca. Sie bilanziert den Konflikt folgendermassen: „Wir haben 349 verhaftete Personen registriert sowie 370 Verwundete und 20 Verstorbene, von denen 11 in Situationen ihr Leben verloren, die direkt mit den Ereignissen zusammenhängen.“ (…) „Die PFP und die weiteren Kräfte, welche zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung intervenierten, machten von wiederholt und exzessiv von Gewalt Gebrauch. Als Folge davon wurde das institutionelle, soziale und kulturelle Gefüge im Bundesstaat beschädigt.“ Der Bericht, der auf hunderten von Interviews, Berichten und Klageschriften beruht, schliesst mit den Worten: „Im Bundesstaat Oaxaca und insbesondere in Oaxaca Stadt geht die Konfliktsituation weiter, sodass die Bedingungen für die Einhaltung und Beobachtung der fundamentalen Rechte gegeben ist.“
Den klaren Worten der CNDH folgen jedoch keine Empfehlungen an die Zentralregierung, was die UNO gleichentags kritisierte. Andere unabhängige Menschenrechtsorganisationen fügten hinzu, wichtige Ereignisse fehlten im Bericht der CNDH, beispielsweise die Berichte zur Folter und Entwürdigung von Gefangenen.
17. Dezember: 43 Häftlinge kommen frei. Frauendemo
Am Sonntag wurden 43 Gefangene der Bewegung um die APPO nach vier Wochen Haft im Sicherheitsgefängnis von Nayarit freigelassen. Die Fianza, eine Art Kaution, aber ohne reelle Chance auf Rückerstattung, wurde von der Regierung Ruiz (aus Steuergeldern) bezahlt. Die Freigelassenen wurden von ihren Angehörigen empfangen. Eine geplante Kundgebung wurde kurzfristig wieder abgesagt. Gross ist der Kummer über die weiteren gut 100 GenossInnen, die in Haft verbleiben. Für die Freilassung aller Gefangenen und die Aufklärung der Schicksale der Verschwundenen hat die Frauenkoordination von Oaxaca zu einer Demo aufgerufen, an der mehrere Hundert Frauen teilnahmen. Auch die Studierenden der Universität UBAJO wagten sich erstmals wieder auf die Strasse und forderten die Freilassung aller Gefangener. Ihr Rektor gab bekannt, er wisse, dass er weit oben auf der schwarzen Liste der Regierung Ulises Ruiz sei.
15. Dezember Oaxaca: Zurück in die Berge?
Ein Rückblick auf einen beispiellosen Protest. Und ein Vorgeschmack darauf, was da noch kommen könnte während der Amtszeit des ‚Felipillo‘ von Richters Gnaden.
Ein Artikel für den Correos de las Americas
Schulen werden überfallen: Schwer bewaffnete Spezialeinheiten dringen in Kindergärten und Grundschulen ein und entführen die anwesenden LehrerInnen, denen die Teilnahme an der Volksbewegung APPO vorgeworfen wird. Hunderte Gefangene, sogar Menschrechtler, werden gefoltert: ‚Wir senden deine Glieder einzeln deinen Familienmitgliedern zu, wir werfen dich aus dem Helikopter‘, lauten die harmloseren Drohungen. 34 weibliche Gefangene berichten aus dem Sicherheitsknast von ‚brutaler, inhumaner und entwürdigender‘ Behandlung. Kirchenmänner wie der im Volk populäre ‚Padre Ubi‘ sprechen von Zuständen wie im Guatemala von Rios Montt und postwendend werden sie von Paramilitärs attackiert. Internationale Menschrechtsorganisationen schreien auf, sie hätten geglaubt, Verschundene habe es nur in den Militärdiktaturen Südamerikas gegeben, nun hätten sie eine lange Liste solcher Namen mit Verschwundenen in Oaxaca, Mexiko, das den UNO-Menschenrechtsrat präsidiert. Auf dem Land wird ein Militanter der sozialen Organisation CODEP niedergeschossen, er liegt mit fünf Kugeln im Leib in einem Spital und seine Companeros fürchten, dass er noch in diesem Zustand von Polizeieinheiten verschleppt wird.
Das sind die düsteren Nachrichten aus dem Oaxaca von Anfang Dezember. Die ‚harte Hand‘ von Calderon bekommt als erstes die Volksbewegung APPO (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca) zu spüren. Die APPO, eine bisher mit nicht-militärischen Mitteln kämpfende Koalition von Massenorganisationen, soll vernichtet werden. Oaxaca darf nicht Schule machen, denn die APPO steht für eine neue, radikal basisgenerierte Art der Politik, und für einen friedvoll-militanten Aufstand nicht nur gegen die PRI (welche Oaxaca seit 80 Jahren regiert) sondern auch gegen die neoliberale Privatisierungsmafia, mit welcher in Oaxaca auch Firmen wie ABB und Nestle ihre Geschäfte machen.
An diesem grossen Aufstand nahmen in Oaxaca Stadt viele, fast alle teil, unzählige Kontingente aus allen Regionen Oaxacas, von allen 16 indigenen Völkern kamen hinzu. Sie blieben sechs Monate lang auf den Barrikaden, gingen trotz bewaffneten Provokationen auf die Demos, beschützetn besetzte Radiostationen, die Frauen machten gar während drei Wochen Volksfernsehen über den besetzten lokalen Fernsehkanal. Und alle hörten ‚ihre‘ Radiostationen, schon frühmorgens, dann auf Arbeit im Touristencafe oder am ambulante-Stand, und sowieso spätnachts, wenn die Angriffe liefen und worauf innert Minuten immer wieder Hunderte entschlossene colonos mobilisiert werden konnten gegen Porros, Paras und schiesswütige Polizisten. Und alle beweinen sie die Toten, bangen um die Verschwundenen und Verhafteten, verachten die Besatzungspolizei PFP (Policia Federal Preventiva).
Oaxaca 2006. Eine unvorstellbar lange, kräfteraubende Mobilsierung: AktivistInnen wie die berühmte Doctora Bertha, der Barrikadenärztin mit der kratzigen Stimme bei ihren Sendungen in Radio Universidad – über die sogar die NZZ respektvoll als ‚Stimme des Widerstands‘ schrieb (bzw. aus El Pais abschrieb) – bestehen nur noch aus Haut und Knochen. Aber nie hat sich die Bewegung verlaufen, nie liess sie sich spalten, nie konnte sie von Anführern verkauft werden. Sie feierte kleine und grosse Siege, so die erfolgreiche Rückeroberung des Stadtzentrums gegen 900 Polizisten am 14. Juni, und erst recht die Verteidigung der Universität und da des Radio Universidad am 2. November gegen die Tausendschaften der PFP. Doctora Bertha’s überlegte, aber entschlossene Stimme am Radio, die das Volk zur Verteidigung der Universität aufrief, zeigte Wirkung, die Aufstandsbekämpfungspolizei musste nach sieben Stunden abziehen, der Innenminister höchstpersönlich forderte freien Abzug für seine von Massen umzingelte Mannen, sie schlugen sich dann in kleinen Trupps zurück in ihr Lager durch.
Das Grüpplein der Aufrechten, die den kokainabhängigen Gouverneur Ulises Ruiz stützen, ist so klein, dass es nicht einmal gelang, im sogenannt befriedeten Stadtzentrum den Hauptplatz mit den vorweihnachtlichen Blumengaben der BürgerInnen zu beschmücken, wie das Tradition ist; so wurden zwei Drittel des Platzes noch schnell von der Regierung ausgeschmückt. Doch die PRIisten pflanzen nicht nur Blumen. Ruiz schwafelt zwar weiterhin von Frieden und Normalität, eine Normalität, in der Korruption und Vetternwirtschaft, Verfolgung und Folter die Norm ist. Ein Slogan der PRIisten, die über eine illegale Radiostation zur Verfolgung der AktivistInnen anstacheln, lautet ‚Haz pueblo. Mata un maestro‘ – ‚Tu was fürs Volk. Töte einen Lehrer‘. Luis Hernandez Navarro, Redakteur der Meinungsanalyse der Jornada, meint dazu, dieser Slogan beschreibe exakt die Lynchstimmung des lokalen PRIismus gegenüber der Volksbewegung und er ‚erklärt unmissverständlich, was die lokalen Machtgruppen unter Frieden verstehen‘.
Auf die militärische Besetzung des Stadtzentrums von Oaxaca Stadt Ende Oktober durch die grauuniformierte PFP (mit Armee-Einheiten im Hinterland) folgte am 25. November im Anschluss der 7. Megamarcha eine gewalttätige Auseinandersetzung ungekannten Ausmasses. Zwanzig Gebäude gingen in Flammen auf, darunter der Justizpalast und das Tourismusministerium. Entlud sich der Volkszorn? Vielleicht, teilweise, aber Provokateure trugen wohl das Ihre dazu bei, denn nahe der Brände wurden auch PRI-Anhänger verhaftet und siehe da, auch die Akten über die Steuerschulden der von der PRI mit Aufträgen bedienten Firmen sind in Flammen aufgegangen… Die PFP erklärte tags darauf offiziell, ihre Toleranz sei jetzt erschöpft, jetzt werde dem Spuk der APPO ein Ende bereitet, und begann eine Hatz, gegen die das unbewaffnete Volk machtlos war. Menschenrechte Fehlanzeige, wie einleitend beschrieben. Bekannte Figuren tauchten ab, tagelang waren Mobilisierungen aufgrund des militärischen Belagerungszustandes unmöglich.
Am Freitag, den 1. Dezember, übernahm der von den Richtern, nicht vom Volk zum Präsidenten gewählte Felipe Calderon mitten in einem medial inszenierten Tumult im Parlament die Macht. Abgeordnete der Regierungspartei PAN verteidigten unter Anleitung der Präsidentengarde des Militärs die Parlaments-Tribüne mit Barrikaden aus Parlamentssesseln und Fausthieben gegen die PRD. Am Montag darauf, dem ersten regulären Arbeitstag des Präsidenten, traf Calderón sich zuallererst mal mit der spanischen Unternehmerschaft. Für Dienstag waren dann Verhandlungen mit der APPO angekündigt, worauf sich einige Vertreter der APPO aus der Klandestinität an die Öffentlichkeit trauten, darunter Flavio Sosa. Und flugs wurden sie aus einer Pressekonferenz heraus verhaftet. Verhandlungen als Falle (wie 1995 in Chiapas, wie 1919 bei der Ermordung von Emiliano Zapata). Tags darauf machte die sozialdemokratische PRD das hehre und dennoch nicht selbstlose Angebot and die Regierung Calderon, alle Streitigkeiten über dessen Amtsantritt und das Budget zu beenden, wenn er das Problem in Oaxaca politisch löse, die Gefangenen frei- und den Gouverneur entlasse. Ein paar Tage dauerte die schale Hoffnung auf einen parteipolitischen Schacher, doch nun herrscht wieder Funkstille, die PAN kann und will es sich nicht leisten, ihren grobschlächtigen Bündnispartner PRI fallenzulassen.
Mexiko verspielte 2006 seinen schon vorher angezweifelten demokratischen Ruf komplett. Die politischen Spielräume wurden schnell immer enger und sind auf die vier ungleich abgeschrägten, grellweissen Wände der Hochsicherheitsgefängnisse zusammengeschrumpft, wo sich nicht nur Kommandanten der Guerillas gegen die weissen Folter zu wehren versuchen sondern immer mehr auch StudentInnen, Bauern von Atenco, LehrerInnen einsitzen. Der alte mexikanische Romancier Carlos Fuentes, der alles andere als ein linker Aktivist ist, mahnte vor zwei Jahren, als Lopez Obrador durch einen konstruierten Vorwurf vor den Richter gezerrt und damit aus dem Rennen um die Präsidentschaft geworfen werden sollte: Wenn man der mexikanischen Linken die parlamentarische Partizipation verweigere, dann bleibe ihr bloss der leidvolle Weg zurück in die Berge, in die Guerilla. Heute, nach 2006, nach Atenco, Wahlbetrug und Oaxaca, scheinen diese Worte leider fast schon prophetischen Charakter zu haben. Auch Subcomandante Marcos sieht in der ‚mano dura‘ der Regierung Calderon den idealen Nährboden für eine neue Generation des bewaffneten Kampfes – und betont gleichzeitig, dass die ‚andere Kampagne‘ der Zapatistas und ihrer Verbündeten auf dem eingeschlagenen gewaltfreien Weg bleiben möchte.
Kaum ist der militärische Druck etwas zurückgenommen (Calderón bekämpft nun die Drogenmafia in Michoacan und spricht von territorialer Kontrolle), da mobilisiert die APPO wieder: Am 12.12., dem Tag der Menschenrechte, fand die achte Megamarcha in Oaxaca statt, es forderten wieder zigtausende Oaxaquenos/as den Rücktritt des verhassten Gouverneurs, unterstützt von der parlamentarischen Linken aus Mexiko Stadt (nicht jedoch von der lokalen PRD-Mafia, die so korrumpiert und prinzipienlos ist wie ihre Parteigenossen in Guerrero und Chiapas). Eine Frauenmobilisierung sowie ein nationaler und internationaler Aktionstag werden folgen.
Doch auch für den Fall der Verlagerung der Auseinandersetzungen auf die militärische Ebene sorgt die mexikanische Regierung schon mal vor – und bestellt in Stans weitere Pilatus Porter PC-9. Dass sie dieses Kriegsmaterial als bevorzugter Handelspartner der Schweiz problemlos geliefert bekommt, versteht sich von selbst. Ausser, wir machen gehörig Lärm…Die Mobilisierungen in Zürich, Genf, Lausanne, Luzern sowie die starke internationalistische Demonstration ‚Solidarität mit den Aufstand in Oaxaca‘ in Bern vom 2. Dezember, an der rund 800 Leute aus allen Landesteilen teilnahmen, war dafür ein guter Anfang.
Wie auch immer der Konflikt in Oaxaca weitergehen wird: Ein halbes Jahr der Politisierung über die Radios, des Widerstands und der gelebten Utopie, das hat die dreieinhalb Millionen Oaxaquen@s unauslöschbar geprägt. Der Weg ist noch lang, doch der Staatsterrorismus wird keine lähmende Wirkung mehr entfalten können; nicht nach diesem langen Herbst der Anarchie, den tausend Barrikaden, dem Bewusstsein, dass das Schicksal in den eigenen Händen liegt.
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