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Soziale Kämpfe

Interview mit Johannes Agnoli

Johannes Agnoli
über die Abschaffung des Staates, die Verteidigung sozialstaatlicher Errungenschaften und linke Emanzipationsstrategien
Eine Situation des Bruchs
Die Zukunft des Staates, der Ökonomie und der zivilen Gesellschaft werden heiß diskutiert. Eine prinzipielle Staatskritik wie die Ihre zielt auf das Zerstören, ist auf das Absterben staatlicher Strukturen aus.
Zerstören? Zwar sagt Marx in einer Inauguraladresse, man müsse, um der Emanzipation willen, den Staat zerstören. Ich schlage für die gleiche Sache aber eine andere Bestimmung vor: Es geht darum, daß man neue Organisationsformen der Gesellschaft findet. Der Staat ist auf Unter und Überordnung gegründet, ist Ausdruck einer Politik, die sich als Herrschaft versteht. Was also überwunden werden soll, nenne ich den objektiven Zwangscharakter unserer Gesellschaft. Die Tatsache also, daß unser gesellschaftliches Leben bestimmt wird durch Strukturen, die einen Zwangscharakter haben. Diese Strukturen konkretisieren sich dann auf der politischen Organisationsebene als heutiger Staat. Was ja nicht immer der Fall war, denn der, Staat ist eine relativ moderne Erscheinung.
Sie betonen: Wer den Staat aufheben will, der muß ihn auch entsprechend kennen. Und Sie kritisieren, daß die wenigsten ihn heutzutage richtig kennen. Was ist also ganz konkret der bürgerliche Staat, den Sie als ein sinnlichübersinnliches Wesen bezeichnen?
Die Bezeichnung „übersinnlich“ wird von Marx auf die Ware bezogen, und genauso wie die Ware ist der Staat sinnlich und zugleich übersinnlich. Der Staat ist ein riesiges ideologisches Konstrukt. Das hat man immer im Auge, wenn man sagt, der Staat sei die bloße Erscheinungsweise kapitalistischer Gesellschaft. Doch der Staat ist nicht nur das, er ist nicht nur die freiheitlichdemokratische Grundordnung. Der Staat treibt zum Beispiel auch die Steuern ein. Er hat also auch eine sinnliche Seite, eine des konkreten Eingriffs in den Alltag der Menschen, aber auch des konkreten Eingriffs in die Ökonomie. Das ist meine alte Auseinandersetzung mit dem orthodoxen Marxismus. Von dem her meinen manche, daß der, Staat nicht die Möglichkeit habe, in die Ökonomie, in den Verwertungsprozeß einzugreifen. Das stimmt aber nicht, denn schon das Steuersystem an sich eine anscheinend oberflächliche Erscheinung greift doch in den Verwertungsprozeß ein, setzt bestimmte Rahmen, und nur innerhalb dieser Rahmen kann das Kapital seinen Verwertungsprozeß organisieren. Es ist ja keineswegs so, daß nur die abhängigen Massen Steuern zahlen. Auch nicht, daß das Kapital nur auf dem Markte, völlig jenseits des Staats, existieren würde. In Italien etwa hat man neuerdings eine 27-prozentige Steuer auf Börsengewinne erhoben. Da kann man doch nicht behaupten, daß dies kein Eingriff in die Selbstbewegung des Kapitals bedeuten würde.
Aber die Frage, in welcher Form diese Steuern erhoben werden, wurde immer vernachlässigt. Man war so sehr von dem Dogma beherrscht, die Kapitalbewegung sei alles, daß man darüber nicht bemerkte, wie außer der Kapitalbewegung nicht nur Milliarden Menschen existieren, sondern vieles vor sich geht, an dem das Kapital selbst gar kein Interesse hat. Das jedoch gesellschaftlich notwendig ist. Nehmen wir nur die ganzen Infrastrukturprobleme.
Also gehören Sie zu denen, die sagen, daß eine staatliche Struktur solange existent sei, solange es die kapitalistische Produktionsweise gibt?
Ja. Das Kapital kommt ohne die politische Form nicht aus. Das Kapital ist ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis, nicht nur ein ökonomisches. Zu dieser Basis. gehört der Staat. Er ist die rechtliche Ordnung, die die gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnisse organisiert. Insofern ist er der Knecht des Kapitals aber es gibt gute und schlechte Knechte.
Wenn auch die Struktur des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft gleich bleibt, die sich ändernde Form ist doch nicht unwichtig. Es bleibt ein Unterschied, ob man beispielsweise ein europäisches Staatsformgebilde hat, das mit breiter Wahlteilnahme und Kontrolle existiert, oder ob es einen Ministerrat gibt, der weitgehend unkontrolliert eine Art autoritäres Regime ist.
Ich bin nicht in der Lage, zu sagen, wo es langlaufen wird. Man muß von dem ausgehen, was sich gesellschaftlich ereignet. Wenn die europäische Gesellschaft eine harmonische wäre, könnten wir das gleiche politische System, die gleiche Form Staat haben wie im Westen.
Wenn aber die Gesellschaft keine harmonische mehr ist, was passiert dann? Denn sowohl ideologisch wie auch konkretpolitisch beruht das westliche Regierungssystem, um diesen neutralen Ausdruck zu verwenden auf einem allgemeinen Konsensus über die Spielregeln der Macht. Das Rousseausche Prinzip der Volont.bŽè generale als allgemeiner Grundlage der Demokratie ist Wirklichkeit geworden, es gibt den allgemeinen Konsensus zu dieser Staatsform. Aber wenn der gesellschaftliche Konflikt die allgemeinen Spielregeln nicht mehr akzeptiert, besteht tatsächlich die Gefahr, daß die bürgerliche Gesellschaft, um sich zu retten, nach härteren Mitteln der Politik greift.
Die Gefahr einer „Faschisierung“ ist da. Manche, die noch immer als links gelten, ziehen daraus den Schluß, es gelte, einen Verfassungspatriotismus zu propagieren.
Verfassungspatriotismus kommt nicht von links, sondern ist die kluge Erfindung eines sehr klugen und sehr feinen Mannes, Dolf Sternberger. Der ist jetzt von Habermas gewissermaßen systematisiert worden. Ich habe zwar einmal den Verfassungspatriotismus ironisiert, als eine Art Ideologie des Verfassungsschutzes, aber ich lasse das Wort gelten für US-Amerika. Die sind Verfassungspatrioten, weil sie noch immer meinen, sie hätten die Verfassung geschaffen. Aber Verfassungspatriotismus in einem Lande, in dem das Grundgesetz praktisch oktroyiert wurde, ist eine ideologische Position. Daß ein Teil der Linken seinen Frieden geschlossen hat mit dem bürgerlichen Verfassungsstaat, das geht in Ordnung. Ich erlaube mir zwar, diese Leute anzugreifen, sie als Wendehälse zu bezeichnen, aber das ist ja keine moralische Verurteilung. Sie haben sich halt gewandelt. Dahinter steckt schon ein überzeugender Kein, nämlich die Position, daß die Linke auf einmal aufgerufen ist, den bürgerlichen Verfassungsstaat gegenüber dem Faschismus zu schützen. Das ist nicht meine Position, aber eine ehrenwerte. Es ist jedoch eine Position, die schon auf der Verliererseite steht. Es gibt ein Wort von Lassalle: Eine Verfassung, die verteidigt werden muß, ist keine gültige Verfassung mehr, hat keine Kraft mehr. Wenn man sich verfassungspatriotisch einbringen will in eine Bruchsituation der Konfliktualität, dann hat man schon verloren. Entweder lebt eine Verfassung aus dem Konsensus oder sie ist nichts.
Ein ähnliches Problem auf einer konkreteren Ebene: Linke kritisierten in den letzten Jahrzehnten das, was den heutigen Sozialstaat ausmacht. Und doch haben wir heute das Problem, daß die Errungenschaften, die mit diesem Staat verbunden sind, weiter ausgehöhlt werden.
Das ist das gleiche Problem. Man muß zwei Dinge unterscheiden. Auf der einen Seite muß man etwas verteidigen, was wir, was auch ich früher kritisiert habe. Aber was ist der Sinn dieser Verteidigung? In einem kritischen Handeln muß man immer die Bruchsituationen erkennen, in die man sich hineinbegeben kann. Es geht nicht darum, daß man jetzt den Sozialstaat verteidigt, den man früher kritisiert hat. Es geht darum, daß man sieht, jetzt entsteht eine Bruchsituation, die nicht nur Ideen und Prinzipien betrifft, sondern Millionen von Menschen. Also muß man sich überlegen, was in, einer solchen Bruchsituation zu tun ist. Es geht also um mehr als nur um die Verteidigung des Sozialstaats.
Das Problem geht viel tiefer. Nehmen wir jenes berühmte Marx-Wort, daß nicht die Befreiung der Arbeit, sondern die Befreiung von der Arbeit das Ziel sei, die Reduzierung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf ein Minimum. Diese Perspektive aufrechtzuerhalten in einer Zeit, in der die Menschen „nach Arbeit hungern“ um überhaupt weiterleben zu können, das ist natürlich ein Problem. Solche Probleme muß man sehen und nicht einfach sagen: Ach was, wir bleiben beim Prinzip der Befreiung von der Arbeit.
Die Linken gehen sehr häufig nicht von der Wirklichkeit aus. Sie gehen immer entweder von Zukunftsvorstellungen oder von vergangenen Positionen aus. Aber die Hoffnung, daß es anders wird, hängt eben auch damit zusammen, daß es so auf keinen Fall weitergehen kann. Die Strukturen dieser Gesellschaft sind nicht mehr tragfähig, nicht mal mehr tragfähig innerhalb der Wohlstandsgesellschaft des Westens, und wir wissen wirklich nicht, was weiter passiert. Diese Gesellschaft muß allemal geändert werden und die Frage ist, ob sich die Änderung übersetzt in eine härtere Form der politischen Machtausübung. Das ist meine Befürchtung.
Wenn Linke eine Aufgabe garantiert nicht haben, dann einen offensichtlich brüchig gewordenen Verfassungsstaat zu verteidigen. Man muß jetzt überlegen, was geschehen muß, was geschehen kann, damit ein anderer Weg eingeschlagen wird und nicht der Weg der Macht. Das Kapital ist eine ernsthafte Sache, keine Spielerei, keine belanglose Größe. Wir wissen nicht, wie die Herrschenden in dieser Gesellschaft reagieren, wenn ihre gesellschaftliche Position gefährdet ist. Wir hatten es, ja nicht mit kleinen Gruppen von Anarchisten zu tun, die versuchen, die Gesellschaft zu zerstören. Wir haben es mit einer viel größeren Quantität, einer Qualität zu tun, die sich da in Bewegung setzt, in Bewegung setzen kann. Vorläufig bewegt sie sich nicht.
Ende der 60er Jahre sahen Sie Chancen einer Fundamentalopposition, die sich des Parlaments noch bedienen könnte. 20 Jahre danach waren Sie Pessimist und bekannten sich zur Anti-Politik.
Anti-Politik auf keinen Fall, das ist mir untergeschoben worden. Anti-Politik wäre eine abstrakte Negation, hieße, sich mit der Politik überhaupt nicht mehr zu befassen. Die Kritik der Politik im Sinne Kants und Marx‘ ist etwas anderes: Beschreiben, analysieren, wie die politische Macht funktioniert, zu welchem Zweck und mit welcher Perspektive. Die Macht ist als solche abzulehnen, aber nicht in der Form einer radikalen, abstrakten Absage, sondern so, daß man kritisch überprüft, wie Macht funktioniert, wie Institutionen funktionieren. Um auch das andere Problem zu klären: Ob es möglich ist, innerhalb der Institutionen zu handeln oder nicht. Ich habe früher eine Fundamentalopposition in Aussicht gestellt, die parlamentarisch tätig ist. Inzwischen bin ich zu der Ansicht gekommen, daß dies innerhalb der Institutionen nicht möglich ist, daß die Institutionen stärker sind als ein möglicher reformerischer Wille. Das Institutionensystem ist ein Machtsystem objektiven Charakters, das nicht abhängt von den Menschen, die in ihm sind. Das gilt auch für die Parteiform.
Es ist das gefragt, was Oskar Negt soziologische Phantasie nannte. Die Form Partei gehört strukturell und historisch zur Form des bürgerlichen Staates. Einer der Gründe, warum ich die an mir geäußerte Kritik, ich würde mich mit Institutionen und nicht mit der Kapitalbewegung befassen, für absurd halte, ist, daß die Kapitalbewegung gerade im Funktionieren der Institutionen ihre Stütze findet.
Eine Organisation, die sich die Emanzipation zum Ziel setzt, muß in der Lage sein, im Vorlauf zu diesem Ziel selber die Emanzipation zu verwirklichen. Eine Organisation, die, um die Emanzipation zu erzielen, sich eine hierarchische Struktur gibt, wird unmöglich dieses Ziel erreichen. Gerade die Geschichte der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien zeigt das.
Mein hauptsächlicher Vorwurf auch gegen die Roten Brigaden in Italien und die RAF in Deutschland war: Wie kann man eine Gesellschaft ohne Kerker und ohne Todesstrafe bezwecken, indem man Menschen zum Tode verurteilt? Das ist ein Widerspruch, und eine politische Organisation, die eine Gesellschaft der Freien und Gleichen will, in Ihrer eigenen Organisation aber weder Freiheit noch Gleichheit kennt, sondern nur Hierarchie und Befehlsstrukturen die wird dieses Ziel nicht erreichen. Wie das freilich zu erreichen ist, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß dies geschehen sollte.
Ebenso bei der gesamten Gesellschaft. Die Überwindung des Zwangscharakters der Gesellschaft ist ein langer Prozeß, weil erst in diesem Prozeß sich die neuen Organisationsformen entwickeln können, die in der Lage sind, den Zwangscharakter zu überwinden. Wenn man mich nach einem Modell fragt, nenne ich immer das Rätemodell. Doch genau läßt sich dies nicht beschreiben.
Adorno sagt, es gibt kein richtiges Leben im falschen. Darauf hat dann Ihr Mitautor Peter Brückner geantwortet, es gäbe aber ein richtigeres Leben.
Ja, richtig. Wenn es kein richtiges Leben im falschen gibt, dann können wir uns auch in unser Gärtlein zurückziehen und Tomaten pflanzen. Dann gibt es ja keinerlei Aussicht auf Emanzipation, auf Verbesserung und Richtigstellung des Lebens. Aber das ist natürlich schwierig, denn selbst die italienischen Anarchiker sie heißen dort nicht Anarchisten, sondern Anarchiker, denn Anarchismus ist doktrinär leben in der Konsumgesellschaft. Auch sie sind nicht dazu in der Lage, eine geldlose Gesellschaft innerhalb der bürgerlichen herzustellen. Eine alte Formulierung von mir wiederhole ich immer bis zum Überdruß: Daß es auf die alltägliche Orientierung ankommt. Wenn du dich vom Alltag bis zu den höchsten kulturellen Sphären am Prinzip orientierst, daß es allemal Herrscher und Beherrschte geben soll, wirst du deinen Alltag anders organisieren, als wenn du der Utopie einer Gesellschaft der Freien und Gleichen anhängst. Daß dies ein schwieriges Geschäft ist, ist klar. Wenn dies nicht so schwierig wäre, hätten wir schon längst Freiheit und Gleichheit erreicht.
Interview: Christoph Jünke