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Antifaschismus

Neunundzwanzigtausend Waggons

PRAG/WARSZAWA/PARIS/BERLIN (Eigener Bericht) – Überlebende der „Reichsbahn“-Deportationen in die Konzentrationslager des NS-Regimes wollen juristische Schritte gegen den heutigen Unternehmensvorstand der Deutschen Bahn AG prüfen. Dies teilt die Initiative „Elftausend Kinder“ mit. Die Deportationsopfer, darunter über elftausend Kinder aus Frankreich und mehrere Millionen aus den okkupierten Gebieten, hatten für die Sammeltransporte auf dem deutschen Schienennetz vier Reichspfennige pro Kilometer zahlen müssen; Kinder wurden mit zwei Pfennigen belastet. Die entsprechenden Beträge zog das Deutsche Reich u.a. bei den jüdischen Gemeinden der Deportierten ein und verteilte anschließend Millionensummen an die „Reichsbahn“. Aus dem betrieblichen Vermögensstock und dem Zinseinkommen bedienten sich sämtliche „Reichsbahn“-Nachfolger. Auch die heutige Bahn AG profitiert von den Deportationsgeldern, aber weigert sich, der Verbrechensopfer durch bundesweite Ausstellungen zu gedenken. Nach ersten Klagedrohungen aus Prag, die sich gegen den Unternehmensvorstand der Bahn AG richten, ruft die Initiative „Elftausend Kinder“ die Überlebenden der „Reichsbahn“-Verbrechen in sämtlichen Staaten Europas dazu auf, ihre Deportationsfälle bekannt zu machen und für ein internationales Klagebegehren bereit zu halten. „Nach den Menschen verschob die Reichsbahn das Hab und Gut der Deportierten in zehntausenden Waggonladungen quer durch den Kontinent“, berichtet Prof. Dr. Wolfgang Dreßen. „Dabei wurden Millionenvermögen gestohlen, aber niemals zurückgegeben.“
Nach den jüngsten Protesten hatte der Berliner Bahnvorstand mitteilen
lassen, er lehne es „endgültig“ ab, an die Bahn-Deportierten durch eine
Ausstellung auf den deutschen Publikumsbahnhöfen zu erinnern.[1]
Entsprechende Forderungen waren am 27. und 28. Januar von über eintausend Demonstranten in elf deutschen Städten erhoben worden.[2] Schwerpunkte der Proteste waren Stuttgart, Saarbrücken und Köln. Demonstrationen finden
seit einem Jahr auch in Frankfurt am Main, Weimar und Leipzig statt.[3]
Wie es in der deutschen Presse heißt, weise der Unternehmensvorstand
sämtliche rmittlungsversuche „schroff“ zurück und ignoriere selbst
Bitten besorgter Landespolitiker.[4] In Weimar ermahnte der Oberbürgermeister das Unternehmen, seiner historischen Verrpflichtung nachzukommen – auch dort scheinbar vergebens.
Land der Täter
„Nach der erneuten Zurückweisung der Proteste meldeten sich empörte
Überlebende aus dem Ausland“, berichtet die Pressesprecherin der
Initiative „Elftausend Kinder“, Tatjana Engel. „Die Überlebenden und ihre
Angehörigen sind verbittert. Es verletzt sie, dass sämtliche Appelle, Bitten
und friedlichen Demonstrationen vom Unternehmensvorstand ignoriert
werden.“ Der privaten Initiative, die sich für das Gedenken an 11.000
deportierte Kinder einsetzt und dabei mit Beate Klarsfeld von der Pariser
Organisation „Fils et Filles des Déportés Juifs de France“ (FFDJF)
zusammenarbeitet, wurden juristische Schritte angeraten. Auch Frau Klarsfeld sieht angesichts der Bahn-Blockade, die einer politischen Gruppe um den Vorstandschef Hartmut Mehdorn zugeschrieben wird [5], keine Dialogmöglichkeiten mehr. Man sei am „Ende aller Diplomatie“, urteilt Frau Klarsfeld [6], deren Pariser Organisation auf 18 französischen Bahnhöfen an die Deportationen jüdischer Kinder erinnern durfte, aber im Land der Täter abgewiesen wird. Um das Gedenken muss auch eine Gruppe kämpfen, die am 28. Januar vor dem Kölner Hauptbahnhof ein Mahnmal des Künstlers
Günter Demnig eingeweiht hatte. Die Inschriftenskulptur („Viele Beamte,
Arbeiter und Angestellte der Deutschen Reichsbahn waren in der Zeit des Nationalsozialismus an der Deportation von Millionen Menschen beteiligt“) ist vom Abtransport durch städtische Behörden bedroht.[7]
Fragebogen
Angesichts der offiziellen Amnesie hat die deutsche Initiative, der
mehrere Hochschullehrer, Historiker und Publizisten angehören, jetzt mit
der Prüfung juristischer Schritte gegen die Bahn AG und ihre Eigentümer
begonnen. Das Unternehmen befindet sich im Besitz einer staatlichen
Beteiligungsverwaltung. Federführend ist das Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. In- und ausländische Bitten, für ein
angemessenes Gedenken auf den deutschen Bahnhöfen Sorge zu tragen, werden von der Behörde entweder nicht beantwortet oder wegen angeblich mangelnder
Zuständigkeit zurückgewiesen. „Auch auf unser Schreiben vom 17. Januar
diesen Jahres reagiert das Ministerium nicht“, berichtet die Pressesprecherin der Initiative „Elftausend Kinder“. Die Gruppe ruft deswegen alle Überlebenden der „Reichsbahn“-Deportationen sowie deren Angehörige auf, einen Fragebogen mit den Deportationsdaten zu hinterlegen. Erbeten werden insbesondere Informationen, die für die Berechnung der
Deportationsgewinne und den realisierten Verbrechensanteil von Bedeutung sind.
Der Fragebogen wird per Internet verbreitet und kann auch per Post oder
Telefax abgefordert werden.[8]
Raub-Logistiker
In welchem Ausmaß das Vorgängerunternehmen der heutigen Bahn AG von den Deportationen profitiert hat, konkretisiert Prof. Dr. Wolfgang Dreßen
in einem Interview mit dieser Redaktion. Demnach schleuste die
„Reichsbahn“ nicht nur Millionen Menschen durch Europa, um sie in Arbeits- und Vernichtungslager zu transportieren – bei entsprechenden Gewinnen. Nach vllendeter Mordbeihilfe stellte die „Reichsbahn“ ihre Schienenlogistik
für weitere Verbrechen zur Verfügung – Abtransport des Eigentums der
Deportierten nach Deutschland. Dort wurden die geraubten Gegenstände
(„Judenmobiliar“) an die NS-Herrschaftseliten verschoben oder öffentlich versteigert. Allein aus Frankreich schaffte die „Reichsbahn“ 29.400 Waggons mit Vermögensgegenständen der Deportierten nach Deutschland. „Das
waren 735 Zugtransporte mit je 40 Wageneinheiten“, konkretisiert Herr
Dreßen. „Es stammte aus 69.000 leergeräumten französischen Wohnungen
Rechnen Sie hoch, was dabei in den Niederlanden, in Belgien, Dänemark, der Tschechoslowakei, Polen und in den anderen okkupierten Staaten
zusammenkommt – das ist eine kaum fassbare Raub-Logistik, die noch niemand aufgearbeitet hat.“
Den Fragebogen finden Sie hier. Die Initiative bittet um Rückmeldungen
von Übersetzern, die den Text ins Tschechische, Ungarische, Rumänische,Serbokroatische, Russische, Griechische übertragen können:
elftausendkinder@web.de
[1] Absage an Klarsfeld; tageszeitung 07.02.2006
[2] s. dazu Verbleib unbekannt
[3] s. dazu Aufwand nicht zumutbar und Geschichtsvergessenheit
[4] Saar-Politiker: Deutsche Bahn soll Ausstellung zeigen; Saarbrücker
Zeitung 28.01.2006. Bahn will nicht an Deportierte erinnern;
tageszeitung 01.02.2006
[5] s. dazu Überparteiliche Koalition
[6] Bahn will nicht an Deportierte erinnern; tageszeitung 01.02.2006
[7] Ein Schreiben der Initiative an die Stadt Köln finden Sie hier.
[8] Den Fragebogen finden Sie hier.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/56256