1,2 Mio. Menschen in 700.000 Arbeitslosengeld II-Haushalten wohnen nach den Kriterien von Hartz IV „unangemessen“ und wurden bzw. werden noch mit Überprüfungsverfahren überzogen.
Wer trotz Umzugsaufforderung durch das Arbeitsamt in seiner alten Wohnung bleibt, zahlt nach einer Frist von 2-6 Monaten die Mehrkosten seiner „überteuerten“ Miete selbst. Das führt in der Folge zur Aushungerung, zum Ansammeln von Miet- und Energieschulden, zum Zwangsumzug oder gar zum zwangsweisen Auszug wegen einer Räumungsklage des Vermieters.
Bei allen Schwierigkeiten der Datenlage werden voraussichtlich am Ende
300-500.000 „stille“ oder „offene“ Zwangsumzüge in der Republik stehen,
sollte es nicht gelingen, die Große Koalition, die Länder und Kommunen
sowie die Bundesagentur für Arbeit zu einer Revision ihrer sozialen
Enteignungspolitik zu bringen. Es geht nicht um Geld, sondern um ein
neues Kapitel sozialer Zurichtung und Disziplinierung. Wer für Nahrung
und Getränke täglich nur noch 4,23 Euro zubilligt, vertreibt auch
Menschen aus ihren Wohnungen, wenn sie 50 Euro über den Mietobergrenzen
liegen. Gerade weil die Zwangsumzüge so individualisiert und lautlos
verhängt werden, ist ein gezielter bundesweiter Aufschrei dringlich.
*Besetzung gegen Wohnraumvernichtung*
Auch in Köln schickt die ARGE solche Aufforderungen zur Senkung der
Unterkunftskosten raus. Gleichzeitig praktiziert die Stadt gigantische
Vernichtung von preiswertem Wohnraum zugunsten von unausgegorenen
Bürohaus-Planungen. So auch beim Barmer Viertel in Deutz. Obwohl das
ehemalige Bauvorhaben geplatzt ist, hält die Stadt am Abriss der 381
völlig intakten Wohnungen fest. Ein nicht hinnehmbarer Widerspruch
angesichts des überteuerten und knappen Wohnungsmarktes in Köln. Darüber
hinaus bedeutet der Abriss des Barmer Viertels städtebaulich die
endgültige Ghettoisierung des gesamten Areals Deutzer Bahnhof –
inklusive Messegelände ein lebloser Büro und Verwaltungskern umgeben von
einem unbewohnten Dienstleistungs- und Servicegürtel.
Schluss mit Lustig: Seit dem 4. März halten mittlerweile über 80 Leute
die Häuser der zentralen Wohnanlage samt großflächigem Innenhof besetzt,
um den plan- und sinnlosen Abbruch zu verhindern. Der Zulauf wächst
stetig und die Unterstützung durch die DeutzerInnen ist gut. Neben einem
Sozialen Zentrum beherbergt der Barmer Block nun auch einen Möbelladen
der Sozialistischen Selbsthilfe Köln (SSK), Cafe und
Veranstaltungsräume. Die Grüne Jugend Köln hat ihrer (den Abriss
befürwortenden) Fraktionsvorsitzenden die Gefolgschaft verwehrt und
beteiligt sich demonstrativ an der Besetzung. Auch die JuSos haben hier
Räumlichkeiten bezogen. Das Sudierendenparlament spricht sich für eine
dauerhafte Nutzung der Häuser als studentischen Wohnraum ergänzt durch
sozialen Wohn- und Projektraum aus. Das Studentenwerk ist interessiert,
sofern es mehrjährige Planungssicherheit erhält.
*
stiller Widerstand und laute Mieterunruhen*
Ohne viel Aufhebens von dieser Form der Aneignung zu machen, zahlen
derzeit fast die Hälfte der MieterInnen von drei älteren Wohnanlagen in
Berlin Neukölln keine Miete mehr. Der zuständige Immobilienmakler
beklagt, dass er seit 9 Monaten keine Mietzahlungen mehr erhalten hat.
Er habe darüberhinaus nich einmal mehr Zugang zu einem Teil der Anlagen,
weil die Leute sich selber Schliessanlagen für Außentüren eingebaut
haben. Eine Massenräumung komme nicht in Frage, da ihn eine einzelne
Räumung zwischen 7000 und 9000 Euro koste, so der Makler.
Anfang der dreißiger Jahre begannen arbeitlose Männer und Frauen in den
USA sich gegen lokale Autoritäten und gegen die von ihnen gesetzten
Regeln aufzulehnen, die sie für Ihre Probleme verantwortlich machten.
Dies wurde unter anderem im massiven Widerstand gegen Wohnungsräumungen
deutlich. Bei steigender Arbeitslosigkeit konnte vielerorts eine große
Zahl von Familien ihre Miete nicht mehr bezahlen, woraufhin die Zahl der
verfügten Zwangsräumungen täglich anstieg. In kleinen Stadtteilzentren
versammelten sich Arbeitslose und wenn die Nachricht ankam, dass einige
Blocks entfernt gerade Leute aus ihrer Wohnung gewiesen wurden, dann
machten sie sich gemeinsam auf den Weg. Gleichgesinnte und Neugierige
schlossen sich ihnen an und wenn die Menge am Ort der Räumung angelangt
war, hatte nicht nur ihre Zahl sondern auch ihr Zorn beträchtlich
zugenommen. Man brachte die Möbel der betroffenen Familie (teils trotz
Polizeipräsenz) in die Wohnung zurück, und nach und nach löste sich die
von ihrem Erfolg begeisterte Menge wieder in kleine Gruppen auf.
Derartige Selbsthilfe erreichte in einigen Sädten ein beträchtliches
Ausmaß und verwandelte sie in regelrechte Mieterunruhen. In Chicago
geriet der Bürgermeister in Panik und ordnete eine Aussetzung der
Zwangsräumungen an. In New York wurden durch den Widerstand 77ooo
angewiese Räumungen verhindert bzw. ganz praktisch rückgängig gemacht.
In vielen Orten organisierten sich „gas squads“ deren Aufgabe es war,
das Gas in den Wohnungen wieder anzustellen. „Electric squads“
überbrückten die Stromzähler, nachdem sie von den Elektrizitätswerken
abgestellt worden waren. (eindrucksvoll beschrieben in Frances F. Piven,
Richard A. Cloward, Aufstand der Armen, Frankfurt 1986)
Lutz Wehring [agenturschluss]
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