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Griechenland: Proteste reißen nicht ab

Während gestern morgen die Geschäftsleute mit den Aufräumarbeiten begannen und die Straßenreiniger sich mit Gesichtsmasken und Schals vor möglichen Tränengasresten schützten, versammelten sich in Korydallos im Westen der Hauptstadt am Donnerstag früh mehrere hundert Jugendliche vor der Haftanstalt auf den Polizisten, durch dessen Waffe Alexis Grigoropoulos starb. Die Polizei sprach von der ruhigsten Nacht, zur Beruhigung der Lage habe offenbar auch der schwere Regen beigetragen.
Belagerung eines Hochsicherheits-Gefängnisses
Viele versammelten sich vor dem Korydallos-Gefängnis um ihren Protest zu zeigen, im Lauf des Tages wurde der beschuldigte Polizist dann zum besagten Gefängnis gebracht. Im Laufe des Tages entwickelten sich Straßenschlachten in der Nähe des Gefängnisses, berichtete ein Wachposten der Anstalt. Einen Tag nach dem Generalstreik der Gewerkschaften war es im Zentrum Athens auch am Tag zunächst ruhig. Am Nachmittag griffen dann Dutzende Gruppen die Polizei in Athen und anderen Städten des Landes an. Allein in Vororten der Hauptstadt wurden Steine und Brandsätze auf 15 Polizeireviere geworfen. Im nordgriechischen Thessaloniki belagerten rund 500 Menschen das Polizeipräsidium. Vor der besetzten Fakultät für Agrarwissenschaften in Athen lieferten sich dann junge Leute und Polizisten Straßenschlachten, wie die Polizei mitteilte. Der Verkehr rund um den zentralen Syntagma-Platz wurde aufgehalten. In den Vierteln Nea Smyrni und Galatsi hätten Menschen Geschäfte und öffentliche Einrichtungen geplündert, sagte die Polizei. Im Stadtteil Patissia wurden Steine und Flaschen auf ein Polizeirevier geworfen, in der Vorstadt Chalandri warfen Schüler Eier auf die Fassade einer Wache. In Patras zogen rund 2000 Menschen durch die Innenstadt. In Thessaloniki griffen Randalierer das Gebäude der Zeitung „Makedonia“ an.
Proteste werden allumfassender und zunächst friedlicher
Insgesamt war die Lage am Donnerstag friedlicher und ruhiger als die Tage zuvor. In der Athener Vorstadt Pallini blockierten Menschen die Straßen, ein Rathaus in einem Vorort wurde friedlich besetzt. Hunderte Schüler brachten den Verkehr auf der wichtigsten Straße von Nea Smyrni, einem Suburb zum Erliegen. Zahlreiche Studenten und Schüler gingen auf die Straßen, um friedlich auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Sie blockierten zentrale Kreuzungen und zogen ebenfalls zu Polizeistationen, einige distanzierten sich dabei ausdrücklich von den Ausschreitungen. Auch aus Halandri im Norden und aus dem Hafen von Piräus wurden Zwischenfälle gemeldet. Mehrere Universitätsfakultäten und rund hundert Schulen in Athen und der zweitgrößten Stadt Thessaloniki blieben geschlossen, vielerorts entstand ein Verkehrschaos. Die Polytechnische Universität sowie 15 weitere Hochschuleinrichtungen und rund hundert Schulen in Athen und Thessaloniki sind immer noch seit Beginn der Woche von Schülern und Studierenden besetzt. Im Vergleich zu Montag und Dienstag hätten die Spannungen zwar abgenommen, die weitere Entwicklung der Proteste wäre aber schwer absehbar, sagte ein Sprecher der Athener Polizei. In einem offenen Brief eines Mädchens, der gestern in der linksliberalen Zeitung „Eleftherotypia“ veröffentlicht wurde hieß es: „Ihr habt die Hosen voll und wartet auf den Tod. Ihr fantasiert nicht, ihr verliebt euch nicht mehr, ihr entwerft nichts mehr. Ihr kauft und verkauft nur“. Während auf Seiten der Demonstranten schon länger über die Tränengasvorräte spekuliert wurde, hieß es nun in Polizeikreisen, den Sicherheitskräften drohe das Tränengas auszugehen, Nachschub solle aus Israel und Deutschland kommen, 4500 Gasgranaten wurden in den letzten Tagen verschossen.
Neue Töne vom Ministerpräsidenten
Der griechische Ministerpräsident Kostas Karamanlis ist gestern trotz der Proteste zum EU-Gipfel nach Brüssel gereist. Seine Regierung steckte zwar schon vor den Krawallen in der Krise, die gewaltsamen Auseinandersetzungen erhöhen den Druck jedoch massiv. Viele Griechen zeigten sich auch über die konservative Regierung verärgert, weil sie die Krawalle nicht in den Griff bekomme, schrieben deutsche Medien. Der Regierung werde schlechtes Krisenmanagement vorgeworfen. Anwohner und Ladeneigentümer hätten sich beschwert, dass die Polizei nur sich selbst geschützt habe. Der Ministerpräsident muss nach Einschätzung von Meinungsforschern mit weiteren Popularitätsverlusten rechen. Die oppositionellen Sozialisten, die in Umfragen in Führung liegen, fordern weiter Neuwahlen. Das griechische Parlament gedachte am Donnerstagabend mit einer Schweigeminute des erschossenen Jugendlichen. Karamanlis ließ aus Brüssel mitteilen, dass die Gewalttäter isoliert werden müssten. „Das ist unsere demokratische und nationale Pflicht“, sagte er. Auch habe er ein offenes Ohr für die Wünsche, die Probleme und die Forderungen der Jugend. Demonstrationen zu diesen Themen seien sogar erwünscht. Was aber nicht akzeptiert werde, sei blinde Gewalt. Er vertrat gegenüber dem griechischen TV die Auffassung, einige Medien hätten übertrieben über die Lage berichtet und betonte: „Griechenland ist ein sicheres Land. Wir haben im Rahmen der Demokratie die Möglichkeit, die Sicherheit aller Menschen zu garantieren“. Die griechische Regierung will trotz der Unruhen an der geplanten Freilassung von rund 5.000 Häftlingen festhalten. Nach einem Hungerstreik von Gefangenen gegen die Überbelegung von Haftanstalten im November hatte die Regierung beschlossen, rund 40 Prozent aller Häftlinge auf freien Fuß zu setzen. Die Entlassungen, die noch im Dezember beginnen sollen, würden nicht verschoben, erklärte das Justizministerium.
Spekulationen über den Todesschützen
Unterdessen gab es viele Spekulationen um den Todesschützen. Einem Bericht nach, der auf mehreren Indymedia Stellen veröffentlicht wurde, ist der Polizist Korkoneas aus Kalamata Mitglied der faschistischen Organisation „Golden Dawn“( Hrysi Avgi), die auch vor wenigen Tagen Mitglieder in Bussen nach Patras schickte um mit Messern gegen die Protestierenden vorzugehen ( http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29333/1.html). Seine Familie sei im ultrarechten Milieu angesiedelt und habe schon im 2ten Weltkrieg mit den deutschen Faschisten kollaboriert. Außerdem brach ein Streit zwischen dem Rechtsbeistand des Polizisten und den Anwälten der Familie des Opfers aus. Ersterer versuchte, das Opfer als bekannten Fußballhooligan darzustellen. Zudem soll der 15-Jährige aus der Privatschule verwiesen worden sein, was jedoch dementiert wurde. „Der Junge wird noch einmal getötet, indem der Rechtsanwalt solche fürchterlichen Gerüchte verbreitet“, kommentierte die Zeitung „Eleftherotypia“. Die Rechtsanwälte der Familie des Opfers wiesen die Behauptungen mit Abscheu zurück. Viele Menschen in Griechenland sind darüber verärgert, dass der Polizist bislang keine Reue gezeigt hat. Das sei, als werde Öl ins Feuer gegossen, titelte eine Zeitung. Mit Spannung werden immer noch die Ergebnisse der ballistischen Untersuchung der Kugel erwartet, die den Jungen Samstag tötete. Medienberichten zufolge sollten sie spätestens an diesem Freitag bekannt gegeben werden. Jedoch wartete die Bevölkerung vergebens, nach neuen Berichten im griechischen Fernsehen könnten die Ergebnisse zur Untersuchung zum Todesschuss erst nächste Woche vorliegen, es seien weitere Untersuchungen nötig.
Blockaden, Besetzungen und Proteste gehen weiter
Heute am Freitag gab es dann wieder eine Großdemonstration in Athen, beteiligt waren vor allem Schüler, Studenten und Lehrkräfte, die gegen die Polizei gerichtete Sprechchöre riefen. An der Spitze des Zuges hielten Demonstranten ein großes Transparent mit der Aufschrift „Mörderstaat“ hoch. Die Fassaden zweier Bankfilialen wurden durch Steine und andere Wurfgeschosse beschädigt. Einige stellten Müllcontainer auf eine der großen Straßen, die vom Zentrum in den Süden Athens führen, und verlangsamten so den Verkehr. Bei Ausschreitungen gab es den Medien zufolge Pfiffe für die Mehrheit der friedlichen Demonstranten. Gleichzeitig sollen diese gerufen haben: „Zerstörung ist nicht unser Ziel“. Vier wichtige Kreuzungen rund um die Innenstadt waren eine Zeit lang friedlich blockiert. Die Demonstration führte von der Universtät bis zum Sitz des Parlaments. Andere besetzten vorübergehend einen kleinen privaten Athener Nachrichtensender, sendeten Parolen gegen die Staatsgewalt und verlasen eine Erklärung. Die Besetzung endete nach Angaben des Senders nach etwa einer Stunde friedlich. Mittlerweile wurde der Polizist, sowie sein Kollege in ein nicht genanntes Gefängnis in der Provinz gebracht. Damit sollen Proteste wie vor dem Hochsicherheits-Gefängnis von Korydallos, wo die Beiden bis gestern in Untersuchungshaft saßen, verhindert werden. Im Zentrum von Thessaloniki folgten etwa 800 Menschen einem Demonstrationsaufruf der Studierendenorganisation der Kommunistischen Partei (KKE). Zu Beginn der Kundgebung warfen Jugendliche Steine und Orangen auf ein Polizeikommissariat nahe dem Weißen Turm, dem Wahrzeichen der Stadt.
Menschenkette um Zentralgebäude der Universität
Aus Protest gegen Gewalt und Zerstörung bildeten mehr als 300 Professoren und Angestellte der Universität Athen eine Menschenkette um das Zentralgebäude der Universität. „Wir bilden einen Schutzgürtel rund um dieses Symbol von Geist und Kultur“, sagte Rektor Christos Kittas im Fernsehen. Mehrere Universitätsgebäude seien in den letzten Tagen verwüstet worden, teilten die Medien mit. In der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki sollen sogar große Teile der Universitätsbibliothek geplündert worden sein, hieß es. In der nordwestgriechischen Stadt Ioannina wurde eine Verwaltungsgebäude kurzzeitig besetzt, wie die Behörden mitteilten. Von Donnerstag auf Freitag war es ebenfalls ruhig geblieben, nach Polizeiangaben sei lediglich das Gebäude eines Sportvereins mit Steinen beworfen worden, deren Vorsitzender der Besitzer des Fernsehsenders Antenna und Chef des griechischen Olympischen Komitees, Minos Kyriakou ist. Vor den Universitäten gab es am Nachmittag erneut Ausschreitungen, Demonstranten beschuldigten Polizisten, sie seien zu nah an das Gelände herangekommen.
Anwaltskanzlei angegriffen
Einige Grupen kündigten an, sie wollten von nun an jeden Tag protestieren, bis die Politik sich bereit zu Reformen zeige. Unterdessen kündigte der für die Polizei zuständige griechische Staatssekretär, Panagiotis Hinofotis, eine Polizeireform an und entschuldigte sich für den Tod des Jugendlichen. „Wir überlegen uns, wer und unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen künftig eine Waffe tragen wird“, sagte er. Auch seien psychologische Tests mindestens einmal im Jahr seien geplant. Der 37-jährige Polizist soll laut Augenzeugenberichten zum Zeitpunkt, als der Todesschuss fiel, „völlig außer Kontrolle und extrem wütend“ gewesen sein. Unterdessen gab es im Verlauf des Tages einen Angriff einer Gruppe Jugendlicher auf die Kanzlei des Anwalts Alexis Kougias im Zentrum der griechischen Hauptstadt. Er vertritt den angeklagten Polizisten, er sei während des Überfalls jedoch nicht im Büro gewesen, hieß es. Die Aktivisten riefen dabei in Anspielung auf die Aussage des Anwalts: „Kougias wird durch einen Querschläger sterben.“ Kougias, der durch Fernsehauftritte bekannt ist hatte mit seiner Aussage für Wut und Empörung gesorgt. Unter anderem sei der Tod von Alexis Grigoropoulos durch eine „Tat Gottes“ herbeigeführt worden.
Die Athener Anwaltskammer hat bereits gegen Kougias ein Disziplinarverfahren eröffnet, nachdem dieser in einer schriftlichen Aussage behauptet hatte, der getötete Junge habe einen Aktenvermerk wegen ungebührlichen Verhaltens. Bereits 2005 fiel Kougias auf, als er einem Aktivisten der Schwulenbewegung ins Gesicht schlug ( http://www.heise.de/tp/r4/artikel/19/19870/1.html).