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Feminismus & Gender & Queer

09.03.2013 – Münster: Raise your voice – your body your choice!

09.03.2013 - Münster - Raise your voice - your body your choice!
Wie be­reits in den ver­gan­ge­nen Jah­ren, soll ver­mut­lich auch in die­sem Jahr im März der von „Eu­ro­Pro­Li­fe“ or­ga­ni­sier­te Ge­bets­zug „1000 Kreu­ze für das Leben“ in Müns­ter statt­fin­den. Dabei ver­sam­meln sich Ab­trei­bungs­geg­ner*innen¹ un­ter­schied­li­cher po­li­ti­scher und welt­an­schau­li­cher Aus­rich­tung, um mit­samt ihren Kreu­zen ein se­xis­ti­sches, ho­mo­pho­bes und frau­en*feind­li­ches Welt­bild auf die Stra­ße zu tra­gen und Frau­en ihr Recht auf Selbst­stim­mung ab­zu­spre­chen.
Auf den ers­ten Blick mag der Ge­bets­zug den Ein­druck einer skur­ri­len und nicht ernst­zu­neh­men­den Ver­an­stal­tung er­we­cken. Die Kreuz­trä­ger*innen er­schei­nen man­chen als ver­wirr­te Fun­da­men­ta­list*innen. Tat­säch­lich ist die Be­we­gung, die hin­ter Ver­an­stal­tun­gen wie „1000 Kreu­ze für das Leben“ steht, keine ex­tre­me und iso­lier­te Rand­er­schei­nung, son­dern Teil einer rück­schritt­li­chen ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lung. Diese fin­det sich in allen Le­bens­be­rei­chen wie­der und ist schon längst in brei­ten Krei­sen der Ge­sell­schaft ver­an­kert. Lau­fen in Müns­ter nur knapp über Hun­dert Kreuz­trä­ger*innen durch die Stadt, so tref­fen sich in Ber­lin zu dem­sel­ben An­lass mitt­ler­wei­le jähr­lich weit über Tau­send.
Nur die Spit­ze des Eis­ber­ges!
Auch wenn in einer ka­pi­ta­lis­ti­schen Ge­sell­schaft – je nach wirt­schaft­li­cher Si­tua­ti­on und vor­herr­schen­der Ver­wer­tungs­lo­gik ( = die Be­wer­tung von Men­schen und Res­sour­cen al­lei­ne nach dem Kri­te­ri­um ihres wirt­schaft­li­chen Nut­zens) – die zu­ge­wie­se­nen Ge­schlech­ter­rol­len fle­xi­bler er­schei­nen, bleibt doch die pa­tri­ar­cha­le Grund­struk­tur er­hal­ten. Diese be­ruht u.a. auf der bür­ger­li­chen Fa­mi­lie als Keim­zel­le der Ge­sell­schaft, auf zu­ge­schrie­be­nen und ver­meint­lich un­ver­än­der­li­chen Ge­schlech­ter­rol­len in einem zwei­ge­schlecht­li­chen Sys­tem, sowie auf der Aus­beu­tung und Dis­kri­mi­nie­rung von Frau­en. Von Frau­en wird er­war­tet, dass sie gleich­zei­tig Kin­der ge­bä­ren, die Fa­mi­lie ver­sor­gen und Lohnar­beit leis­ten. So ist die Er­werbs­be­tei­li­gung von Frau­en in Deutsch­land zah­len­mä­ßig zwar ge­stie­gen, zu­gleich sind Frau­en aber deut­lich sel­te­ner als Män­ner durch ihr Er­werbs­ein­kom­men ab­ge­si­chert (sog. Er­nähr­er­mo­dell). Die tra­di­tio­nel­len Rol­len­zu­schrei­bun­gen, die re­li­giö­sen Fun­da­men­ta­list*innen, Nazis und an­de­ren an­ti-​eman­zi­pa­to­ri­schen Grup­pen als „na­tür­lich“ oder „von Gott ge­ge­ben“ gel­ten, si­chern nach wie vor bür­ger­li­che Werte, pa­tri­ar­cha­le Macht­ver­hält­nis­se und männ­li­che Do­mi­nanz. Pa­tri­ar­cha­le und au­to­ri­tä­re Vor­stel­lun­gen von Ge­schlecht und Fa­mi­lie sind al­ler­dings nicht nur ein Kern­stück fun­da­men­ta­lis­tisch-​re­li­giö­ser Po­si­tio­nen und rech­ter/an­ti-​eman­zi­pa­to­ri­scher Ideo­lo­gi­en, son­dern sie ver­bin­den diese Po­si­tio­nen auch mit dem kon­ser­va­ti­ven Main­stream und fin­den sich – un­ab­hän­gig von so­zia­lem Sta­tus – in brei­ten Tei­len der Ge­sell­schaft wie­der.
Die Krise als Ka­ta­ly­sa­tor auf dem Weg in die Ver­gan­gen­heit?
Ver­un­si­chert durch die all­ge­gen­wär­ti­ge Krise des Ka­pi­ta­lis­mus, Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit und die Angst vor so­zia­lem Ab­stieg wird – in der An­nah­me, dass nur ein „star­ker Staat“ diese Ge­fah­ren ab­wen­den könne – eine au­to­ri­tä­re Vor­stel­lung von Staat und Ge­sell­schaft von vie­len als will­kom­me­ner Lö­sungs­vor­schlag ak­zep­tiert. Ge­ra­de in ver­meint­li­chen Kri­sen­si­tua­tio­nen wer­den im ge­sell­schaft­li­chen Main­stream kon­ser­va­ti­ve Vor­stel­lun­gen hoch­ge­hal­ten oder (re)eta­bliert, fort­schritt­li­che Po­si­tio­nen zu­rück­ge­drängt, er­kämpf­te Rech­te und Frei­räu­me an­ge­gan­gen und auf tra­di­tio­nel­le Rol­len­bil­der, eta­blier­te Macht­ver­hält­nis­se und alt­be­kann­te Dis­kri­mi­nie­rungs­stra­te­gi­en zu­rück­ge­grif­fen.
Damit ein­her geht zum einen die schritt­wei­se Ab­schaf­fung von so­zia­len Rech­ten; die Ver­schär­fung der Be­din­gun­gen für den So­zi­al­leis­tungs­be­zug, der Abbau von Ar­beit­neh­mer*in­nen­rech­ten, die per­ma­nen­te Be­schnei­dung des Ver­samm­lungs­rechts, die Strei­chung der Gel­der von Be­ra­tungs­stel­len für und von Selbst­hil­fe­grup­pen sind nur ei­ni­ge Bei­spie­le. Zum an­de­ren be­güns­tigt das Schü­ren so­zia­ler Ängs­te und der Ruf nach einem „star­ken Staat“ mit kon­ser­va­tiv-​re­ak­tio­nä­ren Wer­ten die Eta­blie­rung von Feind­bil­dern. So wird zur Zeit der Islam von Me­di­en und Po­li­ti­ker*innen zum äu­ße­ren Feind sti­li­siert, Eu­ro­pa wird zu­neh­mend dicht ge­macht, ein Bild von „Flücht­lings­strö­men, die Deutsch­land über­flu­ten“ ge­zeich­net und Mi­grant*innen und Er­werbs­lo­se als „So­zi­al­schma­rot­zer*innen“ dif­fa­miert.
Wie weit diese Ent­wick­lung vor­an­ge­schrit­ten ist, lässt sich unter an­de­rem daran er­ken­nen, dass in vie­len Län­dern Eu­ro­pas re­ak­tio­nä­re und/oder na­tio­na­lis­ti­sche Par­tei­en im Auf­wind sind, oder be­reits Teile der Re­gie­run­gen stel­len und auch der re­li­giö­se Fa­na­tis­mus immer mehr um sich greift.
Never step back! Er­kämpf­te Frei­räu­me und Ni­schen ver­tei­di­gen!
Die Li­be­ra­li­sie­rung des § 218 StGB, die recht­li­che An­er­ken­nung ho­mo­se­xu­el­ler Part­ner*schaf­ten, Frau­en-​ und Mäd­chen­häu­ser und an­de­re Schutz­räu­me für Frau­en sowie die Ab­schaf­fung des §175 StGB², sind nur ei­ni­ge Bei­spie­le dafür, dass Fe­mi­nis­tin­nen, Schwu­len-​ und Les­ben­ak­ti­vist*innen und an­de­re eman­zi­pa­to­ri­sche Be­we­gun­gen es in jah­re­lan­gen und mü­he­vol­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen ge­schafft haben, Staat und Ge­sell­schaft in die­sem Be­reich ei­ni­ge struk­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen ab­zu­trot­zen. Doch selbst diese we­ni­gen er­strit­te­nen ge­sell­schaft­li­chen Zu­ge­ständ­nis­se schei­nen bio­lo­gis­ti­sche Vor­stel­lun­gen von Männ­lich­keit und Weib­lich­keit, tra­di­tio­nel­le Ge­schlech­ter­rol­len, das Sys­tem der Zwei­ge­schlecht­lich­keit und die pa­tri­ar­cha­le Ord­nung be­reits so emp­find­lich zu stö­ren, dass sie von re­li­gi­ös-​fun­da­men­ta­lis­ti­schen, re­ak­tio­nä­ren und kon­ser­va­ti­ven Kräf­ten be­kämpft wer­den. All diese klei­nen Ver­bes­se­run­gen, Frei­räu­me und Ni­schen gilt es zu ver­tei­di­gen – wohl wis­send, dass es sich um nichts mehr als Zu­ge­ständ­nis­se und mi­ni­ma­le Frei­räu­me han­delt und nicht etwa um die ers­ten Schrit­te zur Ab­schaf­fung der pa­tri­ar­cha­len Ver­hält­nis­se.
Mein Bauch ge­hört mir!
Die Frau­en­be­we­gung der 1970er Jahre for­der­te, dass Frau­en nur selbst über ihren Kör­per be­stim­men kön­nen und die al­lei­ni­gen Ent­schei­dungs­trä­ge­rin­nen bei­spiels­wei­se über die Fort­set­zung oder den Ab­bruch einer Schwan­ger­schaft sein sol­len. „Mein Bauch ge­hört mir!“ – diese Pa­ro­le konn­te zu­min­dest teil­wei­se durch ge­mein­sa­men, po­li­ti­schen Druck in die Pra­xis um­ge­setzt wer­den.
Heute wer­den lei­der nur noch sel­ten fe­mi­nis­ti­sche For­de­run­gen in die Öf­fent­lich­keit ge­tra­gen.
Schwie­ri­ge Le­bens­si­tua­tio­nen wer­den in­di­vi­dua­li­siert und ta­bui­siert. So war auch der Um­gang mit Schwan­ger­schafts­ab­brü­chen frü­her häu­fig kol­lek­ti­ver und des­halb für ei­ni­ge Be­trof­fe­ne si­cher­lich ein­fa­cher. Er­kämpf­te Frau­en­räu­me mach­ten es mög­lich Wis­sen wei­ter zu ge­ge­ben, Po­si­tio­nen zu ent­wi­ckeln und sich ge­gen­sei­tig bei Ent­schei­dun­gen zu un­ter­stüt­zen. Der Ver­lust fe­mi­nis­ti­scher Frei­räu­me äu­ßert sich heute z.B. darin, dass un­ge­wollt Schwan­ge­re nur noch sel­ten dar­über spre­chen wenn sie über einen Schwan­ger­schafts­ab­bruch nach­den­ken oder einen hat­ten. Oder darin, dass immer mehr Frau­en­häu­sern und Be­ra­tungs­stel­len die Gel­der ge­stri­chen wer­den – ob­wohl die An­zahl der se­xua­li­sier­ter Über­grif­fe und Ge­walt­ta­ten nicht ab­nimmt.
*Jede*r ist ihres/ sei­nes Glü­ckes Schmied*in ?*
In einer un­ge­rech­ten, in­di­vi­dua­li­sier­ten und auf Kon­kur­renz be­ru­hen­den Ge­sell­schaft gibt es keine wirk­lich frei­en Ent­schei­dun­gen. Was als per­sön­li­che Frei­heit, Fle­xi­bi­li­tät und In­di­vi­dua­li­tät ver­spro­chen wird, ist in Wirk­lich­keit Ver­ein­zelung, Ent­frem­dung und Ent­so­li­da­ri­sie­rung und dient der op­ti­ma­len Ein­setz­bar­keit in der ka­pi­ta­lis­ti­schen Ver­wer­tung und dem Ziel den*die Ein­zel­ne*n best­mög­lich in die Ge­sell­schaft zu „in­te­grie­ren“ und damit kon­trol­lier­bar zu ma­chen. Wer in einer so nor­mier­ten Ge­sell­schaft schei­tert, schei­ter in­di­vi­du­ell, ist dann auch „selbst schuld“ und „hat al­lei­ne damit klar­zu­kom­men“. Unter dem Label der frei­en Ent­schei­dung und der per­sön­li­chen Au­to­no­mie wer­den Men­schen ge­zwun­gen in und mit den vor­ge­fer­tig­ten Nor­men und Wer­ten zu leben. Die Mög­lich­keit das ei­ge­ne Leben jen­seits die­ser Nor­men zu füh­ren, z.B. ho­mo­se­xu­el­le Be­zie­hun­gen oder Be­zie­hun­gen mit meh­re­ren Men­schen zu haben, be­wusst keine Be­zie­hung zu haben oder ohne Kin­der zu leben, scheint den meis­ten immer noch un­denk­bar. Mit Men­schen zu leben, die sich weder als Mann noch als Frau de­fi­nie­ren, scheint gar ein Tabu und un­vor­stell­bar zu sein.
Für uns ist es wich­tig diese ge­sell­schaft­li­chen Werte und Nor­men zu hin­ter­fra­gen und an­zu­ge­hen und auch die ei­ge­nen Dis­kri­mi­nie­rungs­struk­tu­ren, Zwän­ge und Nor­mie­run­gen zu kri­ti­sie­ren. Zwei­ge­schlecht­lich­keit, Ge­schlech­ter­rol­len, männ­li­che Do­mi­nanz, He­te­ro­se­xua­li­tät und die ro­man­ti­sche Zwei­er­be­zie­hung als Nor­ma­li­tät müs­sen ge­ra­de auch in einer Lin­ken, die eine Uto­pie von einer herr­schafts­frei­en, kol­lek­ti­ven Ge­sell­schaft hat, kri­tisch hin­ter­fragt wer­den. Umso wich­ti­ger ist die Er­hal­tung eman­zi­pa­to­ri­scher, au­to­no­mer Pro­jek­te um Al­ter­na­ti­ven wei­ter­ent­wi­ckeln und auf­zei­gen zu kön­nen, um ge­mein­sam han­deln und so­li­da­risch für un­se­re Rech­te strei­ten zu kön­nen. Und dabei geht es nicht darum Rech­te nur für ein­zel­ne „Grup­pen“ zu er­kämp­fen – denn es gilt immer noch, dass kein Mensch frei sein kann, so­lan­ge es nicht alle sind!
Lasst uns immer wie­der ein­schrei­ten, wenn rechts­kon­ser­va­ti­ve Fun­da­men­ta­list*innen die Stra­ße er­obern wol­len und ihnen un­se­re Kri­tik und un­se­re Uto­pi­en ent­ge­gen­set­zen!
Nicht wir schrän­ken diese Leute ein, son­dern diese Leute spre­chen uns ab, selbst über unser Leben, unser Lie­ben und un­se­re Kör­per ent­schei­den zu dür­fen! Aber wir ent­schei­den selbst – kein Gott, kein Staat, kein Pa­tri­ar­chat!
Für Selbst­be­stim­mung in einer herr­schafts­frei­en und so­li­da­ri­schen Ge­sell­schaft!
Das Ab­spre­chen der re­pro­duk­ti­ven Selbst­be­stim­mung durch die Kreuz­züg­ler*innen rich­tet sich vor allem gegen Frau­en, da meist sie die­je­ni­gen sind über deren Kör­per ent­schie­den wer­den soll, wenn es um Schwan­ger­schafts­ab­brü­che geht. Wir möch­ten keine De­mons­tra­ti­on in der Män­ner für Frau­en spre­chen und de­mons­trie­ren, son­dern eine, in der Män­ner so­li­da­risch mit Frau­en auf die Stra­ße gehen. Des­we­gen haben wir uns ent­schlos­sen die ers­ten Rei­hen/den vor­de­ren Teil der De­mons­tra­ti­on als rei­nen Frau­en­Les­benIn­ter­Trans*-​Block zu ge­stal­ten. Warum kein rei­ner Frau­en­block, son­dern auch In­ter-​ und Trans*-​Leu­te? Weil diese so­wohl im Welt­bild christ­li­cher Fun­da­men­ta­list*innen als auch in der Wahr­neh­mung von der Mehr­heit der Ge­sell­schaft nicht mal exis­tie­ren, sie wer­den mar­gi­na­li­siert, zwangs­the­ra­piert und teil­wei­se sogar zwangs­ope­riert um das „har­mo­ni­sche“ der Zwei­ge­schlecht­lich­keit nicht zu ge­fähr­den. Auch da­ge­gen möch­ten wir mit die­ser De­mons­tra­ti­on vor­ge­hen und hal­ten es für sinn­voll diese The­ma­tik auch durch einen ent­schlos­se­nen vor­de­ren FLIT*-​Block sicht­bar zu ma­chen.
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¹ Wir be­nut­zen das „*“ um deut­lich zu ma­chen, dass es Men­schen gibt, die nicht in die engen Ka­te­go­ri­en Mann und Frau pas­sen (wol­len). Wir schrei­ben spä­ter trotz­dem von Män­nern und Frau­en um deut­lich zu ma­chen, dass die so­zia­le, ge­schlecht­li­che Po­si­tio­nie­rung in un­se­rer Ge­sell­schaft im­mer­noch un­ter­schied­li­che Pri­vi­le­gi­en her­vor­bringt. Das zwei­ge­schlecht­li­che Sys­tem leh­nen wir ab, eben weil es nur zwei Ge­schlech­ter kennt und ak­zep­tiert und zudem in eine Hier­ar­chie bringt.
² Der § 218 ver­bie­tet Schwan­ger­schafts­ab­brü­che. Der § 175 stell­te männ­li­che Ho­mo­se­xua­li­tät zum Teil bis in die 1990er Jahre unter Stra­fe.