…ob in Paris oder in Frankfurt, tanzt der Kongreß nun zur Revolution oder doch zum radikaldemokratischen Reformismus?
Gerade drei Stunden benötigt der ICE von Leipzig nach Frankfurt. Dort sollte wieder ein Gespenst umgehen, für ein Wochenende an der Goethe-Universität. In der deutschen Bankenmetropole wurde der Kommunismuskongreß vom 7. bis 9. November abgehalten, finanziert übrigens von der Bundeskulturstiftung. „Kritik und Praxis“ ist nicht nur eine Attitüde, sondern auch eine Politgruppe aus der Bundeshauptstadt die an der Organisation des Kongresses beteiligt war. Damit sollte die jugendlich-aktive Antifa auf die gealterte akademische Prominenz der westdeutschen Linken treffen. Zur Eröffnung wurde über ”Die Aktualität des Kommunismus. Eine erste Annäherung” im überfüllten Hörsaal VI beraten. Die Verhältnisse stinken noch immer zum Himmel, leider galt dies nach einem Buttersäureanschlag auch für das Hörsaalgebäude. Der Diskurs fand also auf umkämpften Gebiet statt.
Kritische Praxis in Frankfurt
Slavoj Zizek holte dabei gleich mit der Keule aus und verdammte alle identitäre Politik à la „Patchwork der Minderheiten“, da diese nicht zur Aufhebung des Kapitalismus beitragen würden. Dagegen verwahrte sich die Frankfurter Kunstdozentin Isabelle Graw, denn die Emanzipation und damit die Frauen-, Anti-Rassismus- und Queerbewegung sei auch unabhängig davon notwendig und es könne nicht erst hierfür auf die Einführung des Kommunismus gewartet werden. Danach wollte der engagiert redende slowenische Philosophieprofessor in der revolutionären Auseinandersetzung „den Arm der Bourgeoisie abhacken“, inklusive der dafür zweifelsohne nötigen Gewalt. Micha Brumlik, der sich in Frankfurt selbst Reformist ernannte, hatte da vielleicht den Aufstand der revolutionären Kronstädter Matrosen vor Augen, der von der Roten Armee unter dem Kommando Trotzkis niedergeschlagen wurde.
Da war sie wieder, die Frage nach dem Weg. Brumlik sah einen möglichen kommunistischen Pfad eher als über einen sozialdemokratischen erreichen an im Sinne von August Bebel. Mit seiner Bemerkung bzw. dem Hinweis, daß sich schon Lenin 1917/18 für die Einrichtung von „Konzentrationslager“, ausgesprochen hat (um den inneren politischen Gegner auszuschalten) wollte er sich der Revolutionsmetaphorik des Herrn Zizek entgegenstellen. Brumlik sorgte aber eher für einige Unruhe semantischer Art. Ihm eine Relativierung der Nazi-Lager oder gar der Shoah zu unterstellen, ist aber abwegig, insbesondere da er den Suhrkamp-Verlag vor der Veröffentlichung der absonderlichen Argumentation eines Ted Honderich bewahrte. Dem Frankfurter Professor für Erziehungswissenschaften ging es unter Bezugnahme auf Giorgio Agamben um die Verdeutlichung der Gefahr, die im Klassenfeinddenken verborgen liegt. „Das Proletariat“ mag zwar, je nach Auslegung dieser theoretischen Kategorie, die Bevölkerungsmehrheit gestellt haben, muß aber nicht immer die Abschaffung der Freiheit, so idealistisch wie dieser Begriff auch ist, drohen, wenn eine selbst ernannte Avantgarde ihren Gesellschaftsvorstellungen zur Befreiung der Unterdrückten durchsetzen will? Laut Lenin und Karl Popper ja, nachdem Herbert Wehner auf Stalin traf, sah er das auch so und wurde Sozialdemokrat, gleichfalls ein wenig autoritär. Eine Auseinandersetzung mit der kommunistischen Geschichte vor allem mit dem Stalinismus forderte besonders Katja Diefenbach und verwahrte sich in einer das Auditorium belebenden Art ebenfalls gegen den leicht leninistischen Zizek.
Ästhetische Krücken im revolutionären Alltag
Der emeritierte FU-Professor Wolfgang-Fritz Haug gab in der Veranstaltung „Anfang und Ende: Praktizierte Philosophie der Praxis“ den sachdienlichen Hinweis (mal wieder) in „Die Ästhetik des Widerstandes“ zu schauen, dort würde sich intensiv der Aufarbeitung des Stalinismus gewidmet. Der Roman von Peter Weiss beginnt mit einer Darstellung des antiken Pergamonaltars, der von ihm als Ausdruck des Leidens gelesen wird. Der Kampf der Unterdrückten war im 19. Und 20. Jahrhunderts der Kampf der sozialdemokratischen-kommunistischen Arbeiterbewegung, der auch einer um die künstlerische Wahrnehmung und Ausdruck war. Diesem widmet sich der Roman und folgt dabei den Emigranten aus (Nazi-)Deutschland in den spanischen Bürgerkrieg. Die Auseinandersetzung um den Kommunismus spielt dabei eine zentrale Rolle.
Der äußere Druck, die drohende Vernichtung der Republik durch die faschistischen Falangisten mag zur Anwendung von einfachen Dichotomien im Denken verleitet haben. Die Liquidierung der anarcho-syndikalistischen, trotzkistischen Gruppen erschien der zuvor selbst unbedeutenden KP Spaniens offiziell opportun, um die Volksfront, das Bündnis mit den bürgerlichen Parteien, am Leben zu halten. Inoffiziell wurde Anweisungen aus Moskau gefolgt und ein ideologischer Konkurrent eliminiert. Die zur selben Zeit stattfindenden Säuberungen Stalins sollten alle Weggefährten Lenins ebenso wie hunderttausende Andere nicht überleben. Ein grobes dogmatisches Freund-Feind-Schema gipfelte in der Auslöschung des sogenannten Klassenfeindes und war zugleich die Legitimation hierfür. Angelegt schon in einer personifizierten Auslegung der Klassenkampftheorie, war die Saat, die die Komintern mit ihren inneren Reinheitsgebot gestreut hatte, in Zeiten größter Gefahr auch in Spanien aufgegangen. Auch wenn es stimmt, was Lenin über eine sogenannte geschichtliche Wahrheit meint, „daß in jeder tiefgehenden Revolution ein langer, hartnäckiger, verzweifelter Widerstand der Ausbeuter […] werden sich die Ausbeuter den Beschlüssen der Mehrheit der Ausgebeuteten unterwerfen, ohne im letzten verzweifelten Kampf, in einer Reihe von Kämpfen ihre Vorteile erprobt zu haben“ (Lenin 1951(b): 36). Den Reformismus der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie verdammte er daher strikt, insbesondere weil auf das Kleinbürgertum und liberale Demokraten nie Verlaß wäre. Daraus folgerte der Berufsrevolutionär, daß die „gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter als Klasse und folglich eine Verletzung der ‚reinen Demokratie’, daß heißt der Gleichheit und Freiheit“ (ebd.: 39, Hervorhebungen im Original) notwendig wäre. Die bürgerliche Demokratie schafft folglich nur Raum für „leeres Gerede“ ( Lenin 1951(a): 51), das Parlament ist für Lenin bestenfalls nur eine „Schwatzbude“ (ebd.: 50), wenig später sollte ein gewisser Carl Schmitt dieselbe Formulierung verwenden.
Nach Schweden war nicht nur Peter Weiss, sondern vorübergehend auch Bertolt Brecht emigriert. Dort wurde ein anderer Weg von der Sozialdemokratie zusammen mit den Gewerkschaften vorexerziert. Die Route der friedlichen Reformen, der gewollten Anpassung, die mit häppchenweise, aber früher dennoch stetig gewonnenen Teilhaberechten vergönnt wurde, führte nicht nur die schwedische Sozialdemokratie und die Arbeiterbewegung in eine Situation der kleinbürgerlich-parlamentarischen Ausweglosigkeit. Sie kamen letztlich „zusammen mit der alten Garde am Portal zum berühmten schwedischen Wohlfahrtstaat“ (Weiss 1988: 2.Band: 304) an. Das Bündnis mit dem Bürgertum beschwörend, werden die Grundfeste der Gesellschaft nicht verändert und im Zweifel ist selbst die vielbeschworene Demokratie auch dort keine Krone wert. Dafür wird sich bis heute an die vermeintlichen nationalstaatlichen Errungenschaften geklammert.
Auch Brecht hatte seine Probleme, historische Figuren und deren Kontexte mehr als nur allegorisch einzusetzen. Engelbrekt war ein „Held“ der zu Beginn des 15.Jahrhunderts einen Volksaufstand in Schweden gegen die dänische Fremdherrschaft anführte. Reformen sollten anschließend die ersehnte Freiheit und „Wohlstand“ ermöglichen. Die Revolution und damit ein noch blutiger Bürgerkrieg wollte er aber letztendlich vermeiden. Engelbrekt versuchte alle Schichten zu vereinen und damit die eigene Welt als im Bergbau mit der Hand arbeitender Aristokrat, der dazu über weitreichende Handelsbeziehungen verfügt, zu reflektieren. Das Ansinnen scheiterte an der Machpolitik des schwedischen Adels und des Großbürgertums. Engelbrekt wurde ermordet und aus den Geschichtsbüchern gelöscht.
Brecht und seine Mitarbeiter suchten in dieser Geschichte nach Antworten für das Jetzt, zur Bewältigung der ideologischen und realen Krise, in der sich die deutschen Emigranten 1940 befanden, eingeigelt im scheinbar demokratischen Schweden, bedroht von Nazitruppen, während die stalinistische Sowjetunion einen Angriffskrieg gegen das benachbarte, von einer Militärdiktatur regierte Finnland führte. Brecht gab schließlich die Arbeit an Engelbrekt auf. Die „geschichtliche Gesetzmäßigkeit“ der mittelalterlichen Welt dieser Person half doch wenig weiter. Die Schwierigkeit mag weniger darin bestehen historische Parallelen zu erkennen, sondern die daraus notwendigen Schlußfolgerungen zu treffen. Das historische Wissen ist eine Krücke. Die Lernhilfe kann ein wenig helfen, den Weg zu meistern, in der Gegenwart den Überblick zu bekommen. Es bleibt eine Herausforderung, im Jetzt die Vielschichtigkeit zu erkennen, nicht simple, denkfaule Schwarz-weiß-Schemata anzuwenden und gleichzeitig handlungsfähig zu bleiben. Dieser, früher vielleicht einmal dialektisch genannten Methode sollte sich eine kommunistisch gesinnte Linke stellen.
Letztlich gibt auch Weiss keine Antwort oder vielleicht doch, denn bei ihm heißt es am Schluß: „…festhalten an unsern Hoffnungen, denn ohne sie hätten wir nicht weitergehn können […] eine Grundlage für die eigne Arbeit zu finden. Wir mussten durch die Politik hindurch, dieses Störende, das den Stil trübte…“ (Dritter Band, S. 261f).
Die Frage nach dem Ei
Maurizio Lazzarato erklärte, in einem herumgereichten Pamphlet, welches als Übersetzung für den geplanten Vortrag dienen sollte, „why revolution cannot be televised“. Das Fernsehen sei ein Machtinstrument, daß aufgrund der ökonomischen und politischen Struktur den revolutionären Diskurs der Anderen verhindere. Dieses Dispositiv und Technologie „der Zeit und des Gedächtnisses“ würde das „Ereignis“ Revolution neutralisieren. Er sieht keinerlei Widerstandspotential darin mit oder gegen das Medium zu agieren. Ein Dialog mit ihm konnte leider nicht entstehen, da Lazzarato anscheinend in Frankfurt verloren ging und daher nie zur Arbeitsgruppe „can the revolution be televised“ erschien.
Die eher penetrant kommentierende Moderatorin wollte anschließend dem LIGNA-Radiokollektiv aus Hamburg einreden, daß sie mit ihrem in den öffentlichen Raum eingreifenden Radioballett doch Theater und kein Radio produzieren würden, worauf diese mehr oder weniger belustigt nur widersprechen konnten. Das „Sender-Empfänger-Problem“ wäre in ihrer Praxis nicht entscheidend. Vielmehr kann die Rezeption unter Berufung auf Brechts Radiotheorie als Produktion betrachtet werden. Eine „Assoziation der Hörenden“ konnte daher im Juni 2003 das Demonstrationsverbot umgehen und mit „nicht konformen Verhalten des Einzelnen“ an einem privatisierten Ort wie dem Leipziger Hauptbahnhof intervenieren. Ein Psychoanalyst erläuterte daraufhin etwas surreal den Lauf der Welt anhand des Todestriebes und erklärte schließlich die elektronischen Medien zur kommunistischen Revolution itself. Der Kommunismus schien hier endgültig eine schwerverständliche entrückte Kopfgeburt zu werden, materiell Arbeitende waren ohnehin kaum anwesend und dies obwohl die DGB Jugend Hessen den Kongreß u.a. mit einem eigenen Politworkshop unterstützte. Was immer auch unter einer „Poplinken“ zu verstehen sein soll, auf eine gewisse Art wird diese auch von Stereo Total-Frontfrau Françoise Cactus oder von Terre Taemlitz verkörpert. Beide durften über „Liebe als stabilisierendes, destabilisierendes und transzendierendes Konzept“ referieren. Letzterer sorgte Samstag nacht im Mousonturm als DJ mit elektronischer Tanzmusik für einen entspannenden Kulturteil, obwohl relativ wenige Kongreßteilnehmer sich nach Frankfurt-Bornheim verirrten. Engagierte Politniks diskutieren scheinbar doch lieber oder gehen zu Lesungen wie zu der sehr erheiternden und lehrreichen von Bini Adamczaks „Kommunismus für Kinder“ am ersten Abend. Die aus Lille kommenden DAT Politics gaben danach ein furioses Laptop-Konzert. Was wäre die ganze Theorie ohne sophisticated fun, damit diese wenigstens für Intellektuelle anziehend bleibt? Vielleicht gab es deswegen vergleichsweise viel zu Kultur bzw. etwas zu deren Repräsentation zu hören.
Relativ wenig wurde sich mit Ökologie auseinandergesetzt, möglicherweise sind dampfende Schlote bei alten Kommunisten immer noch irgendwie positiv belegt. Dabei ließe sich hier leicht die Unvereinbarkeit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit einer lebenswerten (Um)welt zeigen. Am Sonntag sollte das Randthema nur in der AG „Naturverhältnisse und Biopiraterie“ auftauchen, wobei der Fokus auf der Regulation der gentechnisch modifizierten Naturverhältnisse lag. Die totale Verwertung der Lebensverhältnisse wird gemeinhin als zentrales Moment des Neoliberalismus begriffen. Der Widerstand dagegen wird seit den Demonstrationen von Gewerkschaften und anderer Bewegungen in Seattle von 1999 vereinfacht als Globalisierungskritik subsumiert.
Forum Sociale Européene: „une autre Europe est possible“
Auch Globalisierungskritiker, französisch die «altermondialistes» jeglicher Coleur treffen sich gerne. Nach dem Weltsozialforen im brasilianischen Porto Alegre und dem ersten Europäischen Sozialforum in Florenz fand nun das zweite vom 12. bis 15. November in Paris statt Über ein mögliches anderes Europa sollte während der 55 Plena und 250 Seminare und noch mehr Workshops debattiert und Strategien entworfen werden. Zentrale Themen waren der Krieg im Irak und der Neoliberalismus. Beklagt wird die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen oder gar des Wassers, wobei gerade solche ominösen Konzerne wie Nestlé überall Quellen aufkaufen. Aber wird daraus auch eine anti-kapitalistische Konsequenz gezogen?
Respekt kann man zumindest der logistischen Leistung zollen, das Forum mit rund 50 000 Teilnehmenden in Paris und in drei Vorstädten ohne größere Probleme durchgeführt zu haben. Die staatliche Unterstützung durch Kommunen wie das von einem KPF-Bürgermeister regierte St.Denis und der von semi-kriminellen Chirac regierten Republik konnte wohl auch dazu verwandt werden um ein gestaffeltes, günstigstes Eintrittspreissystem mit dem „prekären Ticket“ ab drei Euro zu garantieren. Die finanzielle Unterstützung kommt allerdings nicht von ungefähr. Ziel der Konservativen ist eine erdrückende Umarmung, eine Entmystifizierung: «dediaboliser le mouvement altermondialiste» (Le Monde Economie 11.11.2003: I), wie der ehemalige Premier Alain Juppé sich ausdrückte. Für die kommunistischen Bürgermeister von St.Denis, Bobigny und Ivry-sur-Seine ist die alte PCF tot. Ihre Hoffnung liegt in einer «multitudes communistes» (ebd.: II), die sich lebensnah zusammen mit den verschiedenen Bewegungen einer weiteren Ökonomisierung entgegenstellt.
Sozialreformer aller Länder vereinigt euch!
Attac Frankreich, die kommunistisch geprägte Gewerkschaft CGT und welch Novum, die sozialistische Force Ouvrier aber auch die neugegründeten unabhängigen Gewerkschaften der SUD und der «Groupes Dix» waren an der Organisation des Forums beteiligt.
Die deutschen Einheitsgewerkschaften umarmten ebenfalls die Bewegung. Allerdings bevorzugen sie hierbei eindeutig die Attac-Fraktion, da sie derzeit nicht wirklich an einem anti-kapitalistischen Projekt interessiert sind und damit vielleicht auch wirklich der Einstellung großer Teile ihrer Mitgliedschaft und der Bevölkerung teilen. Horst Schmitthenner von der IG Metall und das Publikum litten beim Forum „Arbeit im Angesicht der Globalisierung“ unter dem zeitweise Ausfall der Simultanübersetzung, die das babylonische Sprachgewirr zumindest für die fünf bis sechs dominierenden Sprachen lösen sollte. Seinen deutschen Zuhörern erklärte er: „schon immer gab es in den Gewerkschaften die Sicht, daß den Parteien die Politik nicht allein überlassen werden darf. [… ]wenn der soziale Frieden, der soziale Kompromiß zwischen Arbeit und Kapital in Gefahr gebracht wird, dann haben die Gewerkschaften immer zu Massenaktionen aufgerufen und durchgeführt.“ Am neoliberalen Konzept kritisiert der hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionär vor allem die ungerechte Verteilung von Chancen und Gewinnen der Globalisierung zwischen und innerhalb der Nationalstaaten. Den Gewerkschaften droht, so Schmitthenner, einerseits ein Verlust an Glaubwürdigkeit und Attraktivität, wenn kein Widerstand von ihnen gegen den Sozialabbau ausgeht, anderseits wollen sie die Beziehungen zur SPD nicht abbrechen lassen. Die traditionelle „Arbeitsteilung mit der SPD“ sicherte bei deren Regierungsbeteiligung immer den Gewerkschaftseinfluß. Die personelle Vergemeinschaftung dürfte ein weiterer gewichtiger aber von ihm ungenannter Grund sein.
Schmitthenner betonte jedoch die wachsende Bedeutung sich davon unabhängig ein Standbein zu schaffen, den Kontakt zu einer außerparlamentarischen Bewegung aufzubauen, die helfen kann gesellschaftliche Mehrheiten zu organisieren. Allerdings haben sich die Gewerkschaften in ihrem Verhältnis neueren sozialen Bewegungen bzw. zu den NGOs, wie Schmitthenner sie nennt, noch nicht festgelegt, aber er betont, daß beide voneinander lernen könnten, denn die Gewerkschaften würden sich schwer tun, Druck gegen die (rot-grüne) Regierung aufzubauen, weil sie nur in den industriellen Beziehungen stark sind. Aber gegenüber der neoliberalen SPD scheint immer noch ein Kurs des Wohlverhaltens dominant und damit werden die Gewerkschaften dem „sozialdemokratischen Projekt 18“ folgen.
Vertreter der britischen Transportarbeitergewerkschaft sind dagegen eher bereit sich gegen New Labour zu stellen und erfolgreich einen Streik durchzuhalten, ebenso wie die ehemalig staatstragenden Postangestellten des Vereinigten Königreichs, die gleich ganz auf einen Streikbeschluß der bezahlten Funktionäre verzichteten und ihre Sache in die eigene Hand nahmen.
Nicht nur die Gewerkschaften, auch Europa ist ein Januskopf, einerseits wird sich heute auf demokratische und soziale Errungenschaften berufen, um andererseits sich nur besser als Block und wirtschaftlicher Rivale der Vereinigten Staaten formieren zu können. Für John Monks, den Chef des Europäischen Gewerkschaftsbundes EGB, soll „das soziale Europa eine Antwort auf die Globalisierung à la Amerika“ sein, was er „als Synonym für Deregulation, Liberalisierung und Wegbruch der Gewerkschaften“ versteht (Le Monde 11.11. 2003: 8). Die Vorreiterrolle der EU in Richtung des allgemeinverteufelten Neoliberalismus unterschlägt auch der Freund von Tony Blair.
„Europa mit einer Verfassung, ein Wunsch und eine frische Idee“
…behauptete zumindest der Moderator Pierre Barge des Panels «Pour une Europe des droits citoyens» am Donnerstag Morgen. Der derzeitige Verfassungsentwurf für die Europäische Union wurde als zentrales Thema nicht nur in diesem Plenarforum in der „Grande Halle“ diskutiert. Einhellig war der ablehnende Tenor während des gesamten Sozialforums, weil der Kern der nouvelle constitution eher in einem neoliberalen „right to compete with the US“ gesehen wird.
Schon der Entstehungsprozeß des Entwurfes war heftiger Kritik ausgesetzt. Ohne öffentliche Diskussion wäre er für und von europäischen Eliten geschieden. Ein belgischer Betriebsrat von FGTB verdeutlichte dies mit dem Hinweis, daß gerade mal vier von zehn Einwohner des Beneluxstaates überhaupt wüßten, daß sie eine neue Verfassung bekommen. Als Gegenkonzept zu dem in Artikel 3 der Verfassung vorgesehen „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb“ wurde in dem Panel u.a. „equal citizienship“ mit gleichen Teilhaberechte vorgeschlagen.
Die ukrainische Panelteilnehmerin verwies darauf, daß eine Verfassung zwar wichtig wäre, sie aber nicht viel mit der Realität, dem „struggle to survive“ gemein haben müsse, wie gerade das russische Beispiel verdeutliche, wo Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Die Erweiterung der Europäischen Union soll nur als „Enlargement of a social model Europe“ gutgeheißen werden. Die Vorsitzende von «femmes sans frontiers» Gudrun Schyman lehnt den Verfassungstext generell ab, weil sie fast ohne Beteiligung von Frauen, dafür aber von „old, rich men“ wie Valéry Giscard d’Estaing geschrieben wurde. Letztlich forderte sie ein Referendum in allen EU-Mitgliedsstaaten zur Verfassung bzw. sogar ein „Moratorium um diesen Verfassungsgebungsprozeß zu stoppen“.
Negri trifft die Multitude…
…und dabei kam die Mehrheit nicht in den Veranstaltungsraum. Scheinbar war es ein Höhepunkt für zu viele jugendlich, revolutionär gestimmte Kongreßteilnehmer. Das Seminar mit Antonio Negri wurde daraufhin von der Gruppe Global Resistance vor die Tür in den sonnig-herbstlichen Park von Paris La Villette verlegt. Schnell gab es eine griffige Begründung über das Megaphon: „in way to fight capitalism, we have to improvise!“ Der Applaus für den Politologieprofessor Negri erinnerte dann ein bißchen an den Auftritt eines Popstars einer vielleicht kommenden kommunistischen Internationalen. Er begrüßte die Anwesenden mit einem leicht unakademischen „fighting capitalism for a better world“ und begann seinen rund 20minütigen Vortrag mit der Festellung, daß sein Konzept der Multitude eben nicht identisch ist mit dem der „Klasse“. Zum einen würden sich die heutigen Arbeitsweise, die -organisation als auch die Arbeitskämpfe von den des 18./19. Jahrhunderts unterscheiden und zum anderen beinhaltet seine „vielfältige Menge“ alle arbeitenden Menschen, ob nun Frauen oder Männer, immateriell oder materiell produzierend tätig sind. Sie alle würde die Singularität vereinen, ausgebeutet zu sein, ob im Schlaf, im Zug reisend oder im Büro.
Die Verwertung des Lebens ist heute perfektioniert. Generell sieht Negri die eindeutige Tendenz, daß die Bedeutung der immateriellen, geistigen Arbeit die der manuellen, industriellen übersteigt, wobei aber auch die Arbeiter in der Massenproduktion immer die „Singularität der Exploitation“ geeint hätte. Auf die Frage aus dem Publikum, wie denn noch zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu unterscheiden sein und ob George W. Bush auch Teil der Multitude sei, kam der Großdenker ins Schwimmen und entgegnete, daß alle Ausgebeuteten ihr angehören würde. Der ebenfalls im Podium mit der Stimmgewalt eines britischen Bergarbeiterführer sprechende Alex, beklagte sich daraufhin über „still too much poetry in what Toni is saying“ und stellte fest: „exploitation is much more specific“.
Die diffuse Menge in Paris
Das internationale Fest der linken politischer Identitäten und Gruppierungen, diese „Singularitäten“, näherte sich am Samstag seinem Höhepunkt. Alle hatten ihre Sammlungsveranstaltungen am Vormittag: die Kulturbeschäftigten ob prekär oder anerkannter Filmemacher in La Villette, „People of african origin in Germany and Austria“ in Ivry, Studenten und Beschäftigte des Bildungssektors in St. Denis und natürlich die Gewerkschafter. Das 1999 von Bourdieu herbei gesehnte „Europa der sozialen Bewegungen“ sollte sich zumindest für einen Nachmittag in den Straßen von Paris manifestieren. Immer noch scheint die Kampf für die eigenen Interessen in Frankreich massenfähig zu sein.
Aber eine Revolution ist von dieser Bewegung nicht zu erwarten. Die Abschlußerklärung des 2. Europäischen Sozialforums vom 16.11. mobilisiert erst einmal für „die Hoffnung auf ein Europa ohne Arbeitslosigkeit und Prekarität […] die Umwelt sowie die Nahrungsqualität erhält“ und immerhin „allen hier lebenden Ausländern das Aufenthaltsrecht und Bürgerechte zuerkennt und das Asylrecht garantiert“. Gegen die EU-Verfassung soll am 9. Mai, am Tag ihrer Ratifizierung europaweit demonstriert werden. Dann dürfte jedoch selbst die Zeit für gewerkschaftliche Reformen vorbei sein.
Der Kommunismuskongreß in Frankfurt und das Sozialforum in Paris waren sicherlich wichtige soziale Events für politisch Engagierte, die nun besser wissen „wo sie stehen“. Der Weg der Linken in Europa und in der Bundesrepublik wird ein reformistischer sein, auch wenn hundert Jahre nach dem Revisionismusstreit immer noch über Kommunismus und Revolution gesprochen wird. Vielleicht war deshalb in Paris während des Forums oft die Forderung nach einem europäischen Generalstreik zu hören.
Deutschland im Herbst, 2003
Zurück nach Deutschland. Im den aus Paris kommenden Zug oder in einer Leipziger Straßenbahn konnte erlebt werden, was den kleinen rechten Mann oder wahlweise auch die kleine konservative Frau dort bewegt: einhelliger Tenor, zwischen Rhein und Oder dürfen sie nicht mehr sagen, was von Juden, Kommunisten und Ausländer zu halten ist. In Leipzig wiederum beteten die Menschen für mehr Erbsen in der Suppe, während ihnen aber gleichzeitig der Belag von der Stulle genommen wird. Ein Pfarrer konnte sich nicht entblöden, einen Gottesdienst in der dortigen Nikolaikirche mit anschließender Kundgebung für Olympia 2012 in der sächsischen Provinzmetropole abzuhalten. Bonjour Tristesse.
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