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Antifaschismus

Revolutionär, Remigrant und Revisor

27.03.06 Neues Deutschland
Der Antifaschist Willi Kirschey vollendet heute sein
100. Lebensjahr
Von Gerhard Hoffmann
Heute feiert der ehemalige Buchenwaldhäftling Willi Kirschey seinen 100. Geburtstag in Berlin im Kreise der Familie und Freunde. Sein Leben spiegelt exemplarisch das »Zeitalter der Extreme« wieder, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nannte. »Ich hatte gute Stunden in meiner Partei. Zurückgeblieben sind aber auch nicht wenige bittere Erfahrungen«, sagt Willi Kirschey. Als zweites Kind eines Schornsteinbauers im sich entwickelnden Industriegebiet um Elberfeld und Barmen, dem späteren Wuppertal, als Wilhelm geboren, wurde er schon in Kindheit und Jugend nur Willi genannt, und so auch in der organisierten Arbeiterbewegung, der er sich frühzeitig anschloss. Als Acht-Klässler erlebte er die Kämpfe der Roten Ruhrarmee zur Abwehr des Kapp-Putsches gegen die junge Weimarer Republik; seine Mutter Auguste kochte das Essen für die Arbeiterkämpfer. Auch damals war es für einen Schulabgänger nicht leicht, gleich eine Ausbildungsstelle zu finden. Es gelang Willi schließlich mit einem Jugendfreund, wie er Mitglied des KJVD, einen Buchhalter ausfindig zu machen, der sie in kaufmännischen Angelegenheiten unterrichtete;
die Unterrichtsstunde kostete fünf Reichsmark, viel Geld damals.
Seine erste Anstellung fand Willi Kirschey bei der kommunistischen »Bergischen Volkszeitung«. Er avancierte später zum Hauptbuchhalter und Revisor in der Zentrale der KPD-Druckereien und hatte Parteivermögen vor dem Zugriff der Nazis zu schützen.
Aufträge von Hugo Eberlein führten ihn nach Wien,Genf, Brüssel, Metz, Saarbrücken und schließlich nach Paris, wo er im Büro des ZK der KPD arbeitete, bis auch er in ein französisches Internierungslager eingesperrt wurde – ins Lager Vierzon, in dem sich mehr als 400 hauptsächlich jüdische Emigranten befanden, auch fünf Genossen der KPD, darunter Klaus Gysi. Da Kirscheys Wunsch, in die französische Armee eingegliedert zu werden, abgelehnt wurde, meldete er sich nach
Diskussion mit den Genossen als »Prestataire« zu einer Arbeitskompanie. Als »Prestataire« galten Internierte, die Angehörige eines Staates waren, mit dem sich Frankreich im Kriegszustand befand. Kirschey sollte in einer Munitionsfabrik arbeiten, doch dazu kam es nicht
mehr. Überraschend schnell stieß die deutsche Wehrmacht vor. Willi Kirschey flüchtete mit tausenden anderen in den Süden Frankreichs, der unbesetzte Zone bleiben sollte. Er traf Albert Norden und Alexander Abusch sowie Freunde aus seiner Jugend in Wuppertal; sie verloren sich jedoch in jenen chaotischen Tagen und Wochen wieder aus den Augen. Auf Geheiß der Partei durfte Willi Kirschey dann keine Kontakt mehr suchen.
Zur großen finanziellen Not kam eine schwere Nierenerkrankung hinzu, Wochen verbrachte er in einem Krankenhaus. Im November 1942 besetzten die deutschen Truppen auch Südfrankreich. Willi Kirschey gelang es, als Buchhalter in einer Kartonagenfabrik eine Arbeit zu bekommen. Doch im Juli 1944 wurde er von deutschen Feldgendarmen verhaftet, in das Gefängnis Toulouse und anschließend mit über tausend anderen Antifaschisten aus Frankreich und Spanien in das KZ Buchenwald deportiert. Im Isolierblock wurde der Häftling Nummer 69545 von Genossen der rheinländischen KP-Gruppe wiedererkannt und aufgenommen. Am 21. April 1945 legte auch Willi Kirschey den Schwur von Buchenwald ab: »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel!«
Er kehrte nach Wuppertal zurück, wo er nach zehn Jahren Trennung Frau und Sohn endlich wieder in die Arme schließen konnte. Sogleich wurde er erneut für die KPD tätig und geriet dadurch in Konflikt mit der britischen Besatzungsmacht. Mit Zustimmung seiner Partei verließ er das Rheinland und übersiedelte in die sowjetische Besatzungszone. Über Plauen im Vogtland, wo er zeitweilig im Sachsenverlag tätig war, kam er nach Berlin und begann beim SED-Parteivorstand zu arbeiten. Seine politischen und kaufmännischen Erfahrungen vor 1933 und in der Emigration nutzend, leitete er die Zentrale Druckerei-, Einkaufs- und Revisionsgesellschaft (Zentrag). 1958 wurde er Generalkonsul der DDR in Conakry, im sich von Frankreich lossagenden Guinea. Anschließend war er Leiter der Kaderabteilung im Außenministerium. 1966 ließ er sich aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzten. Was nicht heißt, dass er nichts mehr tut. Am 9. April will Willi Kirschey in der Gedenkstätte KZ Buchenwald zum 120. Geburtstag von Ernst Thälmann eine Rede halten.